22. November: Wie ich gestern nach der Religionsstunde mit der Franke gegangen bin, haben wir natürlich davon gesprochen. Sie sagt, dazu heiraten die Leute, nur dazu. Das glaube ich wohl nicht, dass die Leute nur deswegen heiraten. Es gibt doch viele Leute, die heiraten und dann doch keine Kinder kriegen. Das ist schon richtig, sagt die Franke, aber es ist doch ganz bestimmt so. Und dann erzählte sie mir noch vieles, was ich nicht alles aufschreiben kann. Es ist zu grässlich und merken tue ich mir ‘s sowieso. Wie ich heute bei der Mama auf dem Bett sitze, fällt mir auf einmal ein, dass wirklich das Bett vom Papa ganz neben dem von der Mama steht. Daran hab' ich eigentlich nie gedacht. Und jetzt ist es ja auch gar nicht mehr notwendig, weil wir alle doch schon groß sind. Dann bleiben halt die Sachen stehen wie früher. Was schaust du denn so herum, mein Kleines, fragt die Mama. Ich hab mir aber nichts merken lassen, sondern hab gesagt: Ich hab nur geschaut, wenn dein Bett zuerst stünde und dann der Waschkasten, so könntest du besser zum Lesen sehen, wenn du im Bett liegst. Das geht nicht wegen dem Spiegelhacken, da ist die Wand ganz zerklopft, sagt die Mama. Ich hab' weiter nichts gesagt und sie auch nicht. Ich schlafe überhaupt lieber auf einem Diwan als im Bett, weil man sich da so gut anpressen kann an die Rückenwand. Ich bin froh, dass die Mama nichts gemerkt hat. Man muss furchtbar achtgeben, dass man sich nicht verrät, wenn man alles weiß.
25. November: Ich habe jetzt eine herrliche Geschichte gelesen; sie heißt Ein treues Herz und handelt von einem Mädchen, der ihr Bräutigam fortgehen muss, weil er einen anderen erschossen hat, der ihm aufgepasst hat. Und die Rosa bleibt ihm treu, bis er zurückkommt nach zehn Jahren und dann heiraten sie. Es ist großartig und zuerst furchtbar traurig. Solche Bibliotheksbücher lasse ich mir gefallen, aber die wir in der Volksschule hatten, die habe ich alle schon gekannt und da hat das Fräulein nie gewusst, was sie mir und der Hella geben soll. Leider bekommen wir im Lyzeum nur alle vier Wochen ein Buch, weil die Frau Doktor sagt, wir haben so soviel zu tun, und wenn wir frei haben, sollen wir in die frische Luft gehen. Ich komme nicht jeden Tag dazu, aufs Eis zu gehen. So gern ich die Goldfee habe, so hab ich sie getauft, aber ihr Name ist mir grässlich. Wie sie gerufen wird, die Inspee sagt Stasi, aber das glaube ich natürlich nicht; eher vielleicht Anna, aber das ist so gewöhnlich. Gott sei Dank, dass mich die Hella immer Rita nennt, so sagen jetzt in der Schule alle Rita. Nur zuhause sagen alle leider Gretl. Neulich habe ich zur Inspee gesagt: Wenn du wünschest, dass ich Thea sagen soll, so bitte ich mir Rita zu sagen; und Gretl verbiete ich mir überhaupt, so sagt man zu kleinen Kindern oder Bauernmädeln heißen so. Da sagte sie: Gott, wie Du mich nennst, ist mir ganz egal. Na also, dann bleibt es bei Dora, aber für immer.
27. November: Der Papa ist Oberlandesgerichtsrat geworden. Er ist sehr froh und die Mama auch. Wir haben gestern abends drauf angestoßen. Jetzt kann er noch Präsident des Obersten Gerichtshofes werden, aber nicht gleich, sondern in ein paar Jahren erst. Wir werden wahrscheinlich im Mai ausziehen, weil wir eine größere Wohnung nehmen werden. Die Inspee hat zur Mama gesagt, sie möchte dann ihren eigenen Raum, wo sie ungestört ist. Lächerbar, wer stört sie denn, ich vielleicht? Eher wohl sie mich, wenn sie immer herschaut, wenn ich Tagebuch schreibe. Die Hella sagt auch immer: Ältere Schwestern sollt es nicht geben; da hat sie wohl sehr, sehr recht. Leider kann man es nicht ändern. Die Mama sagt, zum Nikolo sind wir wirklich schon zu groß, aber ich sehe das nicht ein, dazu ist man nie zu groß. Und dann hat doch die Inspee auch noch voriges Jahr was vom Nikolo bekommen und war schon dreizehn und ich bin jetzt nicht einmal noch zwölf. Überhaupt wir kriegen ja so nur Chokolade und Zuckerln und Datteln und solche Sachen, das ist ja ohnehin kein eigentliches Geschenk. Die Kinder wollen der Frau Doktor einen großen Krampus (der Krampus, auch Kramperl oder Bartl, im Brauchtum eine Schreckgestalt in Begleitung des heiligen Nikolaus, ist eine Gestalt des Adventsbrauchtums im Ostalpenraum), hinstellen auf das Katheder. Aber ich finde das dumm. Einer Lehrkraft, die man gern hat, kann man doch keinen Krampus geben und bei einer, die wir nicht leiden können, ist schad um die Zuckerln und leer können wir ihn auch nicht hinstellen, das wäre eine Beleidigung. In der Hinsicht hat die Mama schon recht, dass der Krampus nur für die Kinder gehört.
1. Dezember: Wir geben allen Lehrkräften einen Krampus, jede gibt eine Krone, hoffentlich gibt mir der Papa die Krone extra. Vielleicht gibt er uns jetzt überhaupt mehr Taschengeld, wenigstens um eine Krone mehr. Das wäre fein. Den Lehrkräften, die wir gern haben, geben wir einen großen und die wir weniger gern haben, einen kleinen. Nur beim Herrn Prof. J. da trauen wir uns nicht. Aber wenn nur er keinen bekommt, ist er vielleicht beleidigt.
2. Dezember: Heute waren wir Krampus kaufen für die Lehrkräfte. Die Frau Doktor M. bekommt den schönsten mit einer großen Butte und die Keller hat ganz kleine Bücherln, wo Schiller, Goethe und Märchen, darauf geschrieben ist, die kommen oben drauf und drunter die Zuckerln. Das passt ausgezeichnet für sie, weil die Frau Doktor doch Deutsch unterrichtet und diese Dichter lernt man in der Vierten in Deutsch. In der Vierten haben sie im November eine Schillerfeier gehabt, und bei uns hat die Frau auch eine sehr schöne Rede gehalten und einige Kinder haben deklamiert. Die Hella hat mir übrigens ein furchtbares Gedicht gezeigt von Schiller. Da kommt vor: Ertappt ich sie im Bade, wie schrie sie da um Gnade, das Mädchen weiß, ich bin ein Mann. Und dann noch eine Stelle: „Zu Gottes freien Ebenbild darf ich den Stempel zeigen, woraus das Leben quillt.“ Aber das steht nur in der großen Ausgabe von Schiller. Mir scheint, wir haben mehrere solche Bücher im Bücherkasten, weil wie die Inspee neulich so herausgekramt hat, hat die Mama aus dem anderen Zimmer gerufen: „Dora, was suchst du denn eigentlich im Bücherkasten? Ich werde dir sagen, wo es steht.“ Und sie hat gesagt: Nichts, ich hab nur etwas nachgeschaut, und hat schnell zugesperrt.
4. Dezember: Die Kinder sind so blöd und haben einen schrecklichen Tratsch gemacht wegen der Krampusse für die Lehrkräfte. Es geht nämlich mit dem Geld nicht zusammen, und da hat die Keller gesagt, die Markus hat sich etwas genommen und dann hat sie gesagt, nein, nicht genommen aber behalten. Und die Markus hat sich natürlich beschwert bei der Frau Doktor und ihr Papa ist zur Frau Direktorin gegangen und hat sich auch beschwert. Und die Frau Doktor hat gesagt, wir wissen doch, dass Geldsammlungen verboten sind und wir dürfen niemanden einen Krampus geben. Jetzt hat die Keller die fünf Krampusse und wir wissen nicht, was wir tun sollen. Die Mama hat gesagt, solche Sachen gehen nie gut aus, da kommt immer ein Streit heraus.
5. Dezember: Wir fürchten uns schrecklich: Die Hella, ich und die Bergler Edith haben den Krampus, den wir für die Frau Doktor M. gekauft haben, vor ihre Türe gestellt. Die Bergler weiß nämlich ihre Wohnung, weil sie alle Tage bei ihr vorbeigeht. Ob sie ahnen wird, von wem der Krampus ist. Ich hab gar nicht gewusst, dass die Bergler Edith so lieb ist, mir ist sie immer so falsch vorgekommen, weil sie Augengläser tragen muss. Aber sie ist bestimmt nicht falsch, da sieht man, wie man sich oft täuschen kann. Morgen haben wir Deutsch-Schularbeit.
6. Dezember: Zuerst hat die Frau Doktor gar nichts gesagt. Und dann hat sie das Thema zur Schularbeit diktiert: „Warum ich einmal am Abend nicht einschlafen konnte“. Die Kinder waren alle ganz erstaunt, und da hat die Frau Doktor gesagt: Nun Kinder, das ist gar nicht so schwer. Der eine kann nicht einschlafen, weil er knapp vor einer Krankheit steht, der andere vor Aufregung entweder aus Freude oder aus Furcht. Ein anderer hat ein schlechtes Gewissen, weil er etwas getan hat, was ihm grad erst verboten wurde; nicht wahr, so etwas Ähnliches habt Ihr doch schon alle erlebt? Und dabei hat sie die Bergler Edith und uns zwei furchtbar lang angeschaut. Aber sonst hat sie nichts gesagt. Wir wissen also nicht bestimmt, ob sie es ahnt. Ich konnte gestern nicht aufs Eisfest gehen, weil ich so stark huste und die Dora auch nicht, weil sie Kopfschmerzen hatte; ich weiß nicht ob wirkliche oder die gewissen Kopfschmerzen; wahrscheinlich solche gewisse.
17. Dezember: Jetzt bin ich eine ganze Woche nicht zum Schreiben gekommen. Vorgestern bekamen wir