Die Tagebücher des Michael Iain Ryan. Nadja Losbohm. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Nadja Losbohm
Издательство: Bookwire
Серия: Die Tagebücher des Michael Iain Ryan
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783752920550
Скачать книгу
aus, wenn jemand sie so sah. Ich war weit davon entfernt, mich so zu geben wie sie, und ich war mir nicht sicher, ob ich es wollte. Aber gegen etwas Zwanglosigkeit war sicher nichts einzuwenden.

      Daher lachte ich nur, als ich dem haarigen Kutscher dabei zusah, wie er sich splitterfasernackt in den Fluss plumpsen ließ und bäuchlings durch das Wasser kroch, das kaum sein ebenso haariges Hinterteil bedeckte. De Forestier stimmte in mein Lachen ein und nahm sich kurzerhand ein Beispiel an Rousel. Auch er streifte Tunika und Beinlinge ab und plantschte fröhlich herum. Dass ich von übermäßig behaarten Männern umgeben war, die so anders aussahen als die Jungen, die ich im Kloster zu Gesicht bekommen hatte, erschreckte mich nicht. Doch der Anblick der Blessuren auf ihren Körpern tat es hingegen sehr. Ich hatte gewusst, dass sie, bevor sie mich von dem Kloster abgeholt hatten, eine Schlacht gefochten haben mussten. Die blauen Flecken, Prellungen und Platzwunden in ihren Gesichtern waren nach wie vor präsent. Aber ich hatte nicht daran gedacht, dass sich die Verletzungen auf ihre ganzen Leiber ausdehnten. Ob sie Schmerzen hatten? Falls ja, gaben sie es nicht zu erkennen. Ich kam nicht umhin, Bewunderung für sie zu empfinden deswegen. Doch auch etliche Fragen lagen mir auf der Zunge. Ich wollte wissen, wo sie gewesen waren, was geschehen war, gegen wen sie gekämpft hatten und ob das öfter vorkam, dass sie so zugerichtet wurden.

      „Komm schon, Michael, trau dich“, rief de Forestier.

      „Uhh?“, machte ich und blickte zu der Stelle, wo er im Wasser hockte und an meinem Habit zupfte. Für einen Moment dachte ich, er hätte gemeint, ich solle mich trauen, meine Frage laut auszusprechen. Gerade noch rechtzeitig erkannte ich, dass dem nicht so war. Ich lächelte und nickte. Ich konnte es selbst kaum glauben, dass ich es tat, aber so war es. Ich warf mein Mönchsgewand ab, ließ mich ins Wasser fallen und war vergnügt wie seit Jahren nicht mehr.

      ***

      Zuletzt hatte ich als achtjähriger Junge in der Natur gebadet. Damals mit meiner Maman. Ob der Gedanke an die unbeschwerte Zeit mit ihr in jenen Momenten in mir aufkam? Natürlich. Wie hätte er es nicht tun können? Ich sah nicht nur die Bilder aus meiner Kindheit. Ich hörte auch das helle, freudige Lachen meiner Mutter, das alle Trübsal aus meinem Kinderherzen vertrieben hatte, aber dessen Klang auch noch zehn Jahre später unsäglichen Kummer und schmerzliches Leid bewirkte. Dennoch ließ es mich in dem Fluss zusammen mit de Forestier und Rousel die Trauer vergessen, und ich genoss sowohl den Frohgemut, den ich verspürte, als auch die schönen Erinnerungen.

      ***

      „Ich hätte nichts dagegen, für den Rest meines Lebens hierzubleiben oder zumindest für den Rest des Tages“, seufzte ich und tauchte abermals der Länge nach ins Wasser ab.

      „Dieses Schicksal ist uns bedauerlicherweise nicht vergönnt“, rief de Forestier über mein Plantschen hinweg. Ich wälzte mich auf den Rücken und blieb auf dem aus Kieselsteinen bestehenden Flussbett sitzen. „So schön und erfrischend das Intermezzo war, es muss nun enden. Wir lagen von Beginn der Reise an hinter unserem Zeitplan, und unser Halt hier sorgt für weitere Verzögerung“, bemerkte er und stieg aus dem Wasser. Ich sah ihm mit gemischten Gefühlen nach. Einerseits hatte ich ein schlechtes Gewissen. Andererseits bedauerte ich es, dass die Laune des Bischofs sich gewandelt hatte von kindlichem Übermut zu erwachsener Ernsthaftigkeit und mir nicht fremder Pedanterie gegenüber dem zeitlichen Ablauf, über dessen Einzelheiten er mich im Ungewissen ließ.

      Was seine Pläne anbelangte, wusste ich lediglich, wohin die Reise führte: nach Concarneau und von dort nach Britannien, um das sich etliche fantastische und auch haarsträubende Mythen ranken. Zumindest für mich, der nur in seinen Träumen und Gedanken gereist war. Nuschelnd tat ich mein Bedauern kund, leistete aber Gehorsam und kletterte ans Ufer. Während ich meine Kleider einsammelte, trocknete meine Haut im brennenden Sonnenschein. Die Tropfen verdampften regelrecht zischend, sodass ich annähernd trocken in meine Kleider schlüpfte. Nicht viel später als die beiden anderen wieder bekleideten Männer war ich zurück beim Kutschwagen und setzte mich gegenüber von de Forestier auf meinen Platz. Rousel rief den Pferden ein Kommando zu. Die Zügel peitschten auf ihre Rücken. Sie antworteten dem Kutscher mit einem Wiehern und trabten los. Ruckelnd fuhr der Wagen los und eine weitere schweißtreibende Hitzeschlacht für Mensch und Tier begann.

      4. Kapitel

      Es dauerte nicht lange, bis mich das stetige Schaukeln der Kutsche und die Monotonie der am Fenster vorbeiziehenden Landschaft schläfrig machten. Immer wieder fielen mir die Augen zu, ob nun aus diesen Gründen oder weil ich einiges an Schlaf in meinem Leben nachzuholen hatte. Ich kannte derlei nicht: Eintönigkeit und Langeweile. Im letzten Jahrzehnt war jeder meiner Tage einem strengen Ablauf gefolgt, von dem es kein Abweichen gegeben hatte. Wenn ich an einen Moment der Untätigkeit denken sollte, fiel mir keiner ein. Ich gähnte herzhaft und setzte mich etwas aufrechter hin in der Hoffnung, dass es der Müdigkeit entgegenwirkte.

      „Hast du es dir so vorgestellt?“, erscholl de Forestiers Stimme aus der schräg gegenüberliegenden Ecke des Wagens. Ich zuckte mit den Schultern. „Du darfst ruhig ehrlich und offen sein, Michael. Nur keine Scheu“, ermutigte er mich.

      „Mhh“, machte ich. Ein wenig Offenheit und Wahrheit sind wohl in Ordnung. „Ihr habt mir hanebüchene Dinge erzählt, Eure Exzellenz, die meine Neugierde entfacht und mir, obwohl ich noch nicht alles weiß und noch weniger gesehen habe, Alpträume bereitet haben. Versteht es nicht falsch, ich bin nicht erpicht auf große Aufregung. Davon hatte ich wahrlich genug.“ Meine Stimme war mit den letzten Worten immer leiser geworden und brach schließlich gänzlich ab.

      De Forestier rieb sich über eine schorfige Stelle an seinem Kinn, die ihn juckte, ein Zeichen, dass die Heilung eingesetzt hatte. „Du meinst solche Aufregung wie die, die zu den Narben auf deinem Rücken geführt hat?“ Mir stockte der Atem. Meine Augen weiteten sich. Fassungslos starrte ich den Bischof an. Wieso hatte er mich nicht am Fluss darauf angesprochen, sondern hatte vorgegeben, sie nicht gesehen zu haben? Und ich – wie hatte ich sie vergessen können? Warum war ich so unachtsam gewesen und hatte mich mit den hässlichen, widerwärtigen Wundmalen und Striemen, die sich von meinen Schultern über meinen gesamten Rücken bis zum oberen Teil meines Gesäßes zogen, gezeigt?

      Weil ich glücklich gewesen war, die Vergangenheit für diese wenigen Momente vollkommen hinter mir lassen zu können, und es genossen hatte, so etwas Normales zu tun wie dem Erfrischen in einem klaren, reinen Fluss. Diese kurze Zeitspanne war für mich ein Stück des Himmels gewesen. Ich wandte den Kopf zur Seite und sah mürrisch aus dem Fenster. Hätte ich doch bloß dem Schlaf nachgegeben. Dann müsste ich jetzt nicht diese unangenehmen und belastenden Blicke von de Forestier ertragen, der darauf brannte, mehr zu erfahren.

      „Du musst es mir nicht erzählen, Junge. Manches, das wir in unserem Vorleben durchgemacht haben, bleibt lieber begraben, als dass wir es immer wieder hervorholen. Du brauchst dir also keine Sorgen zu machen, dass ich dich deswegen ausfrage. Aber lass mich noch dieses dazu sagen: Es tut mir sehr leid.“

      Während er gesprochen hatte, hatte ich mir die Landschaft besehen. Ich stimmte ihm zu, dass schmerzhaftes Vergangenes es nicht wert war, wiederholt ins Gedächtnis zu treten. Dabei konnte niemals Gutes herauskommen. Man konnte es ohnehin nicht ändern oder rückgängig machen. Ich sah de Forestier in die Augen und presste ein Wort des Dankes hervor. Der Ärger darüber, dass er die schändlichen Narben gesehen und ich sie ihm bedenkenlos präsentiert hatte, ebbte nur sehr langsam ab. Der Bischof nickte und lächelte flüchtig. „Ich glaube, seitdem du weißt, wohin es für dich geht, hast du nur das Ziel vor Augen“, kam er auf unser ursprüngliches Thema zurück, „Ziele sind zweifellos gut. Doch viel wichtiger als sie sind die Wege zu ihnen. Diese Reise, Michael, wird für dich lehrreich sein. Ich weiß nicht, ob du unsere Welt, seitdem ich dir von den dunklen Kreaturen erzählt habe, die in ihr wüten, mit anderen Augen siehst. Vermutlich nicht, denn eine gesunde Portion Skepsis steckt in deinen Knochen. Auch mir fiel es einst schwer, die Geschichten zu glauben. Über etwas zu hören, ist stets anders, als etwas zu sehen. Das ist das Erste, was ich dir in Bezug auf unser Ziel beibringen kann. Du wirst vielerlei Dinge lernen und die Welt anders wahrnehmen. Du wirst auch viel über dich selbst herausfinden und Neues an dir entdecken, von