"Rowan", sagte er, als ich schon nicht mehr mit einer Antwort rechnete. "Sie allein zu lassen – diese Vorstellung jagt mir größere Angst ein als irgendein Fluch es je könnte."
Ich nickte und einmal mehr wurde mir bewusst, wie sehr ich meine Familie vermisste. Dads schlechte Witze und Moms heiße Schokolade, Ceds Umarmungen und Maggies Lachen. Ich war froh, zu wissen, dass sie nie allein sein würden. Selbst, wenn ich nicht zurückkehrte, hatten sie immer noch einander.
"Das darfst du nicht denken." Conans Flüstern schnitt zwischen meine Gedanken und brachte mich dazu, ihn anzusehen. "Du bist stark, Evangeline, vergiss das nicht. Du hast einen komplizierten Fluch gebrochen und bist der mächtigsten Frau des Landes entwischt. Du wirst einen Weg finden, deine Familie wiederzusehen."
Ich zuckte die Schultern. Conan war nicht der erste, der versuchte, mir Hoffnung zu machen. Die Rebellen, Susan, Sidony und nicht zuletzt Morrigan hatten das Feuer in meinem Herzen geschürt. Sogar ich selbst hatte begonnen, ihre Worte zu glauben. Und hier saß ich – inmitten eines geheimen Hexenzirkels, während um uns herum ein Krieg tobte, den ich begonnen hatte. Ich war nie pessimistisch gewesen, doch nach allem, was das Schicksal uns in den letzten Wochen aufgebürdet hatte, fiel es mir schwer, weiterhin an Happy Ends zu glauben.
"Was ist mit Rowan?", fragte ich und beendete damit das Thema endgültig. "Hast du mit ihr gesprochen, seit ..."
Über Conans Züge huschte Desorientierung, bevor seine Miene sich verhärtete. "Nein."
Es war die Antwort, mit der ich gerechnet hatte und ich musste nicht einmal seine Gedanken lesen, um zu wissen, was hinter seiner plötzlichen Verschlossenheit steckte.
"Sie ist deine Schwester", entgegnete ich. "Sie verdient Antworten, findest du nicht?"
Für eine Weile durchbrachen nur das Rauschen der Blätter und die vereinzelten Rufe einer Eule die Stille.
Schließlich hörte ich ihn ausatmen. "Das Letzte, was Rowan von mir gesehen hat, war meine Verwandlung in die Bestie. Ich habe sie allein gelassen in einer Welt ..."
Er hob den Kopf und unsere Blicke trafen sich. "Ich habe ihr versprochen, dass ich immer für sie da sein würde. Ich habe es geschworen, verstehst du?"
"Ihr beide", sagte ich leise, während ich seine Hände nahm. "Ihr beide seid alles, was ihr habt. Du bist nicht schuld daran, dass der Fluch euch auseinandergerissen hat, aber wenn du zulässt, dass deine Schuldgefühle euch auch in Zukunft trennen, dann liegt das sehr wohl in deiner Verantwortung."
Schmerz trat auf Conans Züge und bevor ich realisierte, wie viel härter als beabsichtigt meine Worte gewesen waren, wandte er sich ab. Das Schweigen, das sich zwischen uns breitmachte, fühlte sich an wie ein Schlag in den Magen.
"Ich wollte nicht ..." Unsicher rückte ich ein Stück zur Seite. "Es tut mir leid. Ich hätte das nicht sagen sollen."
"Nein." Er schüttelte den Kopf. "Du hast ja Recht. Rowan verdient eine Erklärung. Es ist nur ..."
"Ich weiß." Ich musterte ihn von der Seite und ein weiteres Mal wurde mir bewusst, dass ich nicht die einzige war, der dieser Krieg alles abverlangte. Auf Conans Schultern lastete genügend Verantwortung für ein halbes Leben und in diesem Moment konnte ich sehen, wie sie ihn mit sich in die Tiefe riss.
"Rowan wird dir vergeben", sagte ich leise. "Doch das ist unwichtig, solange du dir nicht selbst vergibst."
Er hob den Kopf und für einen Augenblick sahen wir uns einfach nur an. Ich wusste nicht, ob meine Worte irgendetwas ändern würden, doch ich hoffte, dass sie es taten. Conan verdiente sein Glück so sehr wie kaum jemand anderes, den ich während der letzten Wochen kennengelernt hatte und ich betete, dass er sich nicht selbst im Weg stehen würde.
"Wir sollten zurück ins Dorf gehen", sagte er schließlich und richtete sich auf. "Morgen wird ein anstrengender Tag."
Ich widersprach nicht. Stumm sah ich zu, wie er seinen Umhang aufhob und das Laub, das sich darin verfangen hatte, herausschüttelte. Als er sich nach mir umdrehte, hatte ich die Hand bereits ausgestreckt. Flammen tanzten auf meiner Handfläche und ohne zu zögern ging ich voran.
Vielleicht war Magie wirklich mehr als eine Waffe im Krieg gegen Morrigan. Wenn Conan beginnen konnte, sein Schicksal zu akzeptieren – sollte ich dann nicht zumindest versuchen, die Magie zu einem Teil von mir zu machen?
Kapitel 2
Es war einer jener ungemütlichen Herbsttage, der ihr Schicksal für immer bestimmen würde.
Der eisige Wind riss die letzten, braunen Blätter von den kahlen Ästen und fegte sie in den Dreck der regennassen Straßen. Man konnte kaum einen Schritt gehen, ohne sich in einer der riesigen Pfützen die Schuhe aufzuweichen. Die ganze Welt schien in Grau gehüllt, wartend, bis der Winter einbrach und das Elend unter seiner weißen Decke verbarg.
An ebendiesem trostlosen Morgen, im Schimmer der Dämmerung, sah man eine Gestalt durch die Gassen der Stadt huschen. Das heißt, man hätte sie gesehen, wäre man an diesem Herbsttag schon in der Morgendämmerung auf den Beinen gewesen. Man hätte schon von Weitem gehört, wie die nackten Füße der Gestalt durch die Pfützen am Straßenrand klatschten. Und man hätte gewusst, dass diese Gestalt, unter einem großen Umhang verborgen, sich offenbar wenig darum scherte, ob sie bemerkt wurde oder nicht. Sie hatte es einfach nur eilig. Der zerrissene Saum ihres Umhangs schleifte im Dreck, genau wie das darunter hervorblitzende Kleid, an dem kaum ein Fitzelchen Stoff war, das ursprünglich zu diesem Stück gehört hatte. Überall Flicken und Löcher, die den mageren Körper dieser Frau nur notdürftig verhüllten. Und doch, wäre dieses Kleid nicht gewesen, die nackte, dreckige Haut stattdessen sauber und die dicke, verfilzte Mähne gewaschen und gekämmt, hätte man die Frau tatsächlich als hübsch bezeichnen können.
Sie war höchstens zwanzig, mit wunderschönen Locken und einem Ausdruck in den dunklen Augen, der Bände sprach. Sie hatte viel erlebt, zweifellos. In ihrem kurzen Leben musste sie schon so viel Elend ertragen haben, wie nur wenige Menschen auf dieser Welt. Und trotzdem sprühte ihr Blick vor Mut. Mut und einer Leidenschaft, wie man sie nur selten fand. Diese Frau hatte sich noch nicht aufgegeben, so viel stand fest. Sie war bereit zu kämpfen.
Mit ihren dürren Fingern – fahl wie Papier – drückte sie ein Bündel an ihre Brust. Unzählige Lagen Stoff, die dieselbe Farbe hatten wie die nassen, glitschigen Blätter auf dem Pflaster umhüllten ihr kleines Geheimnis. Konnte man nicht durch die Augen dieser Frau sehen, war es unmöglich, zu erraten, was sich darunter verbarg. Doch die prüfenden Blicke der Frau, die Liebe und der Schmerz, die ihren Blick gleichermaßen erfüllten, sprachen eine eigene Sprache.
Geräuschlos huschte sie durch die schlafende Stadt, einem unbekannten Ziel entgegen. Ihr Weg führte sie durch verworrene Gassen, Schleichwege, über Treppen und Brücken, bis sie schließlich stehenblieb.
Die Straße sah aus wie hunderte andere in dieser Stadt. Häuser reihten sich dicht an dicht, manche kerzengerade und hoch wie Felsen, andere krumm und schief wie buckelige Frauen. Dazwischen verlief eine unebene, pfützenübersäte Pflasterstraße, gerade einmal so breit, dass zwei schmale Fuhrwerke aneinander vorbeipassten.
Das Haus, vor dem die Frau stand, stach nicht aus der Menge. Es hatte zwei Stockwerke, bot also Platz für eine sechsköpfige Familie. Das ehemalige Weiß des Fachwerks war von Wind und Wetter bereits in ein dreckiges Graubraun verwandelt worden und die Wände standen leicht schief. Die Augen der Frau wanderten an den Fenstern entlang – kleine Fenster mit niedlichen Spitzengardinen, die ein schöneres Innenleben vermuten ließen als der Rest des Hauses. Hinter keinem dieser Fenster brannte Licht und nach einigen Minuten, die sie in der Mitte der Straße stand und das Haus anstarrte, wusste sie auch mit Gewissheit, dass keiner seiner Bewohner auf den Beinen war.
Vorsichtig ging sie einige Schritte auf den Eingang zu – eine schlichte Steintreppe, die in drei Stufen hinauf an die dunkle Haustür führte. Auf der letzten Stufe blieb sie stehen, blickte unschlüssig an der schiefen