Im nächsten Moment senken sie sich langsam herab. Der Falke lässt das Mädchen sacht auf dem Dach des Amtsgebäudes nieder und dreht ab.
J.J. sieht sich hastig um, da sie befürchtet, dass Skulks in der Nähe sein könnten. Aber da ist kein anderes Wesen. Nur Linus, der am anderen Ende des Gebäudes in menschlicher Gestalt aus dem Schatten tritt und langsam auf sie zuschreitet.
»Was soll ich hier? Linus, wo bist du gewesen?
Ich will nicht hier sein und ich will auch nicht in der anderen Welt sein! Ich will nirgendwo mehr sein, verstehst du?«, schreit sie ihm verzweifelt zu.
J.J. versteht nicht, was hier vor sich geht. Alles in ihr rotiert. Die quälenden Fragen der vergangenen Monate vermischen sich mit der Unsicherheit dieser obskuren Situation.
Linus bleibt in sicherer Entfernung stehen und hebt beschwichtigend seine Hände. Dabei sieht er ihr tief in die Augen, so wie er es vor dieser Katastrophe immer getan hat. Aber im Gegensatz zu früher wirkt er dabei nicht stark und selbstbewusst, sondern tieftraurig.
»Jezabel, ich weiß, dass du Angst vor mir hast. Bitte höre mir trotzdem zu! Ich wollte dir niemals wehtun! Es gibt etwas, das ich dir unbedingt erklären muss. Dafür ist der richtige Zeitpunkt jedoch noch nicht gekommen. Ich habe Fehler gemacht, weil ich dich schützen wollte …
Ich habe im Moment nicht viel Zeit.«
Als seine Stimme abbricht, geht er verzweifelt auf sie zu.
»Bitte! Du musst mir glauben. Ich …«, spricht er hastig, als ein bekanntes Kreischen seine Rede unterbricht.
Das Mädchen dreht sich ängstlich im Kreis, kann aber nichts Ungewöhnliches entdecken. Sie wendet sich wieder zu Linus, der nun hektisch auf sie zukommt.
J.J. selbst kann sich nicht bewegen. Sie steht kurz vor einem Kollaps. Ihre Gefühle und Gedanken fahren Achterbahn und sie zittert am ganzen Körper.
»Bitte, Jezabel. Ich habe keine Zeit mehr. Hör mir zu. Du musst nach Xestha zurückgehen! Es wird dir dort nichts geschehen.
Überlege dir jedoch gut, wem du vertraust! Nicht jeder, den du als Feind ansiehst, will dir schaden. Jedes Wesen hat seine eigene Geschichte.
Ich weiß, dass du es schaffen wirst! Wenn die Zeit gekommen ist, wirst du wissen, was du zu tun hast.«
Er unterbricht sich erneut und sieht sich nervös um. Das Kreischen ist nun ganz nah über ihnen. Linus winkt sie hektisch zu sich, aber J.J. kann sich einfach nicht bewegen. Irgendwie ist alles in ihr erstarrt.
»Träume ich?«, fragt sie den Jungen leise, der sich nun umdreht und auf das Zentrum zeigt. Ein seltsamer, orangefarbener Lichtstrahl fährt aus seiner Hand, der sich weit durch die ewige Dämmerung zieht, bis er auf ein ungewöhnliches Gebäude trifft, das viel kleiner als die anderen ist und sehr verwahrlost aussieht.
»Dort liegt deine Aufgabe! Nur dort wirst du alle Antworten finden! Hab keine Angst. Du wirst niemals alleine sein«, spricht der Junge mit ruhiger Stimme.
J.J. atmet hastig. Sie versteht einfach nicht, was er von ihr will. Erst als er sich hektisch in den Falken verwandelt, löst sich endlich ihre Starre.
Völlig aufgelöst rennt sie auf ihn zu, während sie verzweifelt schreit:
»Warte! Linus, bitte! Geh nicht wieder weg! Ich muss wissen, wo du bist. Linus!
Ich verstehe nicht … Bitte!«
Sie bemerkt nicht, dass sich hinter ihr eine ekelerregende Gestalt kopfüber auf sie stürzt. Kurz bevor das Mädchen den Falken erreicht, sieht sie nur den Schrecken in seinen Augen.
Der Falke erhebt sich blitzschnell in die Höhe und stürzt schreiend auf sie zu. J.J. bleibt erschrocken stehen und dreht sich endlich um. Mit Entsetzen sieht sie das gewaltige weiße Netz, das auf sie herabgeschossen kommt.
»Skulks«, denkt sie panisch und kreischt los.
In diesem Moment stürzt der Falke auf sie zu und stößt sie vom Dach des Amtsgebäudes.
Während des Falls empfindet sie eigenartigerweise gar nichts. Kurz bevor sie auf den Boden trifft, hört sie noch einmal seine Stimme.
»Ich habe dich nicht belogen. Du musst mir vertrauen. Folge deiner Bestimmung, schwarze Prinzessin. Dein Mut ist meine Stärke.«
Als sie aufprallt, schreit sie vor Schmerz laut auf. Mit geschlossenen Augen bleibt sie liegen. Alles dreht sich.
»Der Skulk!«, denkt sie panisch.
»Linus! Bitte! Linus! Was tust du da?«, schreit sie hysterisch los, bevor sie im nächsten Moment zu würgen beginnt, da sie befürchtet zu ersticken. Panisch spuckt sie das kalte Wasser aus und öffnet entsetzt die Augen.
Oma Vettel, mit einem großen Eimer in der Hand, kniet neben ihr und sieht sie besorgt an.
»Es ist alles gut, Jezabel! Ich bin ja da!
Komm, ich helfe dir auf. Wie es aussieht, hattest du einen schrecklichen Albtraum!«, spricht die alte Dame leise.
J.J. sieht sich völlig verwirrt um und tastet nach dem Gesicht ihrer Großmutter. Als das Mädchen sicher ist, dass sie nicht träumt, springt sie hoch und läuft verstört durchs Zimmer.
»War das ein Traum? Habe ich das wirklich nur geträumt?«, denkt sie irritiert, während sie zum Fenster geht und es mit stummer Miene verschließt. Verwirrt tastet sie an der Wand entlang. Die Tapete ist immer noch violett!
»Ich verstehe das nicht«, flüstert sie leise.
Ihre Großmutter kommt auf sie zu und streicht ihr sanft durchs Haar.
»Da hat das Haus aber wirklich Glück gehabt! Broaf hat mir berichtet, dass es bis zu meiner Ankunft diesen schrecklichen Trauereffekt beibehalten hat. Morgen früh werde ich ihm dafür gehörig die Meinung geigen! Aber jetzt kümmern wir uns erst einmal um dich! Wie ich sehe, komme ich keinen Moment zu früh.«
Ohne Vorwarnung schnappt sie J.J.s Hand und zieht sie einfach hinter sich her.
Während die beiden stumm die Treppe hinabgehen, denkt das Mädchen verkrampft nach. Nichts scheint ihr dieses seltsame Erlebnis erklären zu können.
Wenn es wirklich nur ein Traum war, warum war das Fenster noch geöffnet?
Und für einen Fall von der Bettkante war der Aufprall ziemlich schmerzhaft.
Und da war noch seine Berührung. Sie konnte seinen Duft riechen und seine Worte klangen klar und deutlich.
Aber würde Linus wirklich wollen, dass sie zurück nach Xestha geht?
Kapitel 3
Ein langersehnter Gast
Es war ungefähr ein Uhr morgens, als Oma Vettel ihre Enkelin neben dem Bett auffand. Die alte Dame hatte es sich gerade mit einem Glas Wein in der Küche gemütlich gemacht, um sich von ihrer anstrengenden Anreise aus Rosaryon zu erholen, als sie J.J.s Schreie hörten.
Das war für Oma Vettel mehrfach erschreckend, da sie in diesem Moment ja noch nicht wusste, dass J.J. sich in Havelock versteckt. Broaf wollte es ihr eigentlich gerade erst schonend beibringen. Nachdem sie den Diener also sehr verständnislos angesehen hat, ist die alte Dame panisch nach oben gespurtet.
Jetzt sitzen die Drei in der Küche und schlürfen heißen Tee. J.J. sitzt neben Oma Vettel, ihren Kopf auf deren Schulter gelehnt.
»Da haben wir ja einen schönen Schlamassel! Das ist wirklich eine sehr verzwickte Situation. Es war Selbstschutz! Was sonst?
Der Junge wollte sie verfluchen! Jede Hexe aus Rosaryon hätte sich in diesem Fall gewehrt!
Ich muss mir überlegen, wie wir dieses Problem lösen, mein Kind. Wir wären also wieder am Anfang. Darania gibt nicht auf! Es wäre ja auch viel zu einfach gewesen.
Na