„Kommst du mit ins Haus?“, fragte Tina und zwang sich zu einem Lächeln. „Ich mache uns einen Espresso.“
„Gerne“, antwortete Franziska sofort. Sie schien sich über die spontane, freundlich klingende Einladung ihrer Schwägerin zu freuen.
Vielleicht lässt Roccos Tod uns doch noch zu Freundinnen werden?, fragte sich Tina, während sie neben der älteren Frau, die hohe Eingangshalle betrat.
Die beiden Frauen saßen auf der Terrasse, welche sich auf der Rückseite der großen Villa befand. Von hier aus genossen sie einen unvorstellbaren Blick auf das wellige Hügelland.
Nachdem sie an ihrem Espresso genippt hatte, lehnte sich Franziska im Korbsessel zurück und sah ihre Schwägerin mit einem milden Lächeln an. „Was willst du jetzt machen?“, fragte sie Tina in einen mütterlichen Ton. „Ich meine, wie soll es für dich nach Roccos Beerdigung weitergehen? Wirst du hier wohnen bleiben? Willst du überhaupt hier bleiben, oder gehst du in deine Heimat zurück?“
Tina seufzte leise. Sie sah ein paar Sekunden lang gedankenverloren in den weitläufigen, kunstvoll angelegten Park hinunter, der sich gleich der Terrasse anschloss. Das murmeln und plätschern des Springbrunnens war das einzige Geräusch in der abendlichen Stille.
„Ich habe mich entschlossen hier zu bleiben“, antwortete sie schließlich und sah ihr Gegenüber ernst an. „In Frankfurt wartet niemand auf mich. Vielleicht werde ich mein Studium wieder aufnehmen. Aber zuerst muss ich mich um Roccos Nachlass kümmern.“
„Er hat dich zu seiner Alleinerbin gemacht, nicht wahr?“, erkundigte sich Franziska lächelnd. Tina nickte nur stumm und senkte den Kopf, als müsse sie deswegen ein schlechtes Gewissen haben. „So gehört es sich auch. Ihr seid schließlich verheiratet gewesen, was für dich bestimmt nicht immer einfach war, nicht wahr, meine Liebe?“
Tina sah die Schwester ihres verstorbenen Mannes, deren Augen hinter einer schwarzen Sonnenbrille verborgen waren, erstaunt an. So viel Verständnis hätte sie nicht erwartet. Denn Franziska hatte vom ersten Tag an keinen Hehl daraus gemacht, dass die achtundzwanzig jährige Studentin nicht gerade ihre Traumschwägerin war.
“Rocco und ich haben uns nicht verstanden“, fuhr Franziska mit harter Stimme fort. „Deshalb hatten wir in den vergangenen Jahren kaum Kontakt mehr. Zumindest nicht so, wie es eigentlich zwischen Geschwistern sein sollte. Mein Bruder war schwierig. Er konnte sehr jähzornig sein und schrecklich unversöhnlich.“
„Ja, es war nicht immer leicht mit ihm“, vertraute sich Tina der Verwandten an. „Er war immer sehr eifersüchtig, obwohl er nie einen Grund dazu hatte.“
Franziska lachte kurz auf. „Ja, Roccos Eifersucht … Sie hat auch deiner Vorgängerin das Leben schwergemacht.“
„Weißt Du …“ Tina rückte mit ihren Korbsessel näher an ihrer Schwägerin heran. „Rocco hat mir noch kurz vor seinen Tod vorgeworfen, ich hätte ein Verhältnis mit seinem Freund Sandro. Aber du musst mir glauben …“, sie ergriff Franziskas Hände und hielt sie fest, „… ich war deinem Bruder immer treu.“
Franziska sah sie zwei, drei Herzschläge lang an, ohne dass Tina den Blick erwiderte. „Ich glaube dir,“ antwortete sie ruhig. „Ich kannte meinen Bruder.“
„Er … er hat mich verflucht“, gestand Tina ihr leise, noch immer mit abgewandten Blick. „Nur wenige Sekunden bevor er gestorben ist.“
„Verflucht?“ Ihre Schwägerin rückte auf die Sesselkante.
„Ja, er hat gesagt, er würde mich zu sich holen. Ich sollte nach seinem Tod keinem anderen Mann mehr gehören.“
Franziska schwieg einen Moment als würde sie überlegen. Dann lachte sie laut. „Und so einen Unsinn glaubst du etwa?“
„Nein, natürlich nicht“, antwortete Tina schnell. „Aber trotzdem ist es ein unheimliches Gefühl.“ Sie lehnte sich zurück und ließ ihren Blick erneut über die Hügel schweifen.
Die beiden Frauen schwiegen eine Weile, jede in ihren Gedanken versunken. Sie hatten sich nicht viel zusagen, sie kannten sich ja kaum. Tina fragte sich, aus welchem Grund Franziska sie überhaupt besuchte.
„Wenn du möchtest, werde ich dir in den kommenden Wochen beistehen“, hörte sie nun ihre Schwägerin sagen. „Vielleicht … vielleicht können wir nach Roccos Tod noch Freundinnen werden?“
Tina sah sie an und lächelte. „Das wäre schön“, antwortete sie bereitwillig. „Eine Freundin kann ich gut gebrauchen, wenn ich hier bleibe.“
Franziska stand auf und küsste sie auf beiden Wangen. „Ich werde dir helfen, bei allem, was jetzt auf dich zukommen wird. Auch bei der Verwaltung von Roccos Erbe – wenn du das möchtest. Vielleicht wirst du irgendwann einmal einen Rat brauchen. Dann kannst du dich immer an mich wenden.“
„Das ist lieb von Dir.“ Die junge Witwe lächelte dankbar.
„Weißt du …“ Franziska ließ sich wieder in den Korbsessel fallen, der unter ihrem Gewicht leise ächzte. „Ich habe derzeit auch Probleme und könnte ebenfalls eine Freundin gebrauchen.“ Sie hielt einen Moment inne und vertraute Tina dann mit zitternder Stimme an: „Mein Mann hat mich vor zwei Wochen verlassen! Robert hat eine andere.“ Sie seufzte laut. „Unsere Ehe war zwar nicht die glücklichste, aber trotzdem tut es weh.“
„Sei sicher, ich werde genauso für dich da sein, wie du für mich“, versprach Tina ihr mit fester Stimme.
Sie fühlte sich erleichtert. Denn die Vorstellung, Franziska nach dem Tod ihres Mannes weiterhin zur Feindin zu haben, hatte ihr Angst gemacht.
Kapitel 4
Rocco wurde in der Familiengruft beigesetzt. Nur wenige gaben ihm das letzte Geleit. Außer Franziska schien es keine näheren Verwandten zu geben, und wenn es sie gegeben hätte, wären sie wahrscheinlich nicht erschienen, denn der Verstorbene war nie ein Familienmensch gewesen. Deswegen hatte der ehemalige Playboy in seiner Ehe mit Tina auch keine Kinder haben wollen.
Zur Beisetzung fanden sich einige Geschäftspartner ein und ein paar enge Freunde aus seiner Junggesellenzeit, darunter auch Sandro, der angebliche Geliebte von Tina. Er wusste jedoch nichts davon, dass er der Auslöser des Ehestreits gewesen war, den Rocco nicht überlebt hatte.
Tina, die in ihrem schwarzen Kostüm und dem Spitzenschleier über dem blonden Haar blass und zerbrechlich wirkte, saß in der kleinen, kalten Kapelle zwischen ihrer Schwägerin und Denis Keller, ihrer besten Freundin aus Deutschland. Sie war es auch, die mit der jungen Witwe noch am Grab stehen blieb, als die anderen Trauergäste schon auf dem Weg zur Villa waren, wo es Essen und Trinken gab.
Nachdem die beiden Freundinnen eine Weile schweigend auf den Sarg aus schwarzem Ebenholz hinuntergeblickt hatten, sagte Denis leise: „Ich werde die gesamte Villa ausräuchern. Du weißt ja …“ Sie sah Tina bedeutsam an.
Ja, Tina wusste, Denis glaubte an Geister, an böse sowie an gute. Einmal in der Woche versammelte sie sich in ihrer kleinen Kunstgalerie, mit ein paar Gleichgesinnten, um Kontakt zu Geistern aufzunehmen. „Es ist wichtig“, flüsterte die Freundin in eindringlichem Ton, „besonders deshalb, weil ihr euch im Streit getrennt habt.“
Tina teilte nicht unbedingt diese Lebensauffassung, aber es gab schließlich auch keinen Gegenbeweis, für Denis’ unerschütterlichen Glauben an das Übersinnliche. Deshalb nickte sie nur zustimmend. Widerspruch wäre sowieso zwecklos gewesen, denn wenn sich die Freundin etwas in den Kopf gesetzt hatte, führte sie es auch durch. Außerdem fiel Tina in diesem Moment wieder ein, was sie in den letzten Tagen erfolgreich verdrängt hatte: Roccos ausgesprochenen Fluch.
Kapitel 5
Tina spürte einen Schauer über ihren Rücken laufen. Fröstelnd sah sie sich in dem mit Marmorplatten