Das Lied des Steines. Frank Riemann. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Frank Riemann
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742782533
Скачать книгу
Richtungen näher kamen und immer lauter wurden, bis vier Streifenwagen die Zugangsstraßen zur Kreuzung blockierten, die Sirenen abstellten und die Besatzungen hinter ihren Wagen Schutz suchten. Die sich drehenden roten und blauen Alarmlichter hatten sie angelassen; sie spiegelten sich zuckend in den umliegenden Fensterscheiben.

      Der nächste Schuss traf den Scheinwerfer eines Streifenwagens ohne jemanden zu verletzen.

      Die Menschen, die von der Kreuzung geflüchtet waren, hatten sich eigentlich nicht darum gekümmert, woher die Schüsse kamen. Alles, was sie wollten, war sich in Sicherheit zu bringen. Die Polizisten, die mit ihren Waffen im Anschlag über Kofferräume und Motorhauben lugten, nahmen den erst halbfertigen Neubau an der nordöstlichen Ecke der Kreuzung Koinage Road und Narok Road ins Visier.

      Als der nächste Schuss fiel, erwiderten die Polizisten das Feuer auf eine der oberen Etagen, deren Fensteröffnungen noch ohne Scheiben auf die Kreuzung herunter gähnten. Von einem Schützen war nichts zu sehen, geschweige denn, dass er getroffen wurde. Einige Geschosse trafen das Mauerwerk, Querschläger pfiffen. Einer davon traf eine Straßenlaterne, ein anderer bohrte sich in einen Baum, und wiederum ein anderer den Zeitungskiosk, was dem Verkäufer zeigte, dass seine Reaktion richtig gewesen war.

      Nachdem die Polizisten das Feuer mangels eines eindeutigen Ziels eingestellt hatten und der Klang der Schüsse in den Ohren aller Anwesenden verhallt war, wurden erneut Sirenen lauter. Es mussten sich etliche Einsatzwagen von Polizei und Rettungsdienst nähern. Einer der Streifenbeamten vor Ort hatte über Funk Verstärkung angefordert und nach seinem knappen Bericht waren nun weitere Streifenwagen, ein Sonderkommando, Scharfschützen und Rettungswagen unterwegs.

      Die Streifenwagen sperrten die Zufahrtsstraßen weiträumig ab und hielten Fußgänger zurück. Die Besatzungen klärten sie über die Notwendigkeit auf, Umwege in Kauf zu nehmen und verwehrten ihnen den Durchgang, gaben den Grund dafür aber nicht an, um zu verhindern, dass noch mehr Schaulustige die Einsatzkräfte behinderten. Dennoch hatten sich an den eilig errichteten Absperrungen bereits Gruppen Neugieriger zusammengefunden. Schüsse und Sirenen hatten die Sensationshungrigen angelockt.

      Andere Polizisten sorgten dafür, dass alle sich noch im Gefahrenbereich befindlichen Personen in weiter hinten liegende sichere Areale gebracht wurden. Einige leisteten Erste Hilfe bei den Verletzten, andere nahmen Zeugenaussagen auf. Die Rettungswagen blieben zwischen der ersten und der zweiten Absperrung, ihre Besatzungen nahmen Verletzte entgegen und behandelten sie. Der Frau, die am Bein getroffen worden war, wurde ein Druckverband angelegt. Naomis Ohr hatte aufgehört zu bluten, es wurde nur noch gesäubert und desinfiziert. Die Verletzung des Mannes, der sie gerettet hatte, war komplizierter. Im Gegensatz zu der Frau, bei der das Entfernen des Geschosses kein Problem darstellen sollte, würde der Mann ein dauerhaftes Gebrechen davontragen. Die Kugel zerstörte den Fersenknochen in seinem Fuß, und er würde weiterhin ein leichtes Humpeln zurückbehalten. Aber was bedeutete das schon, wenn man ein Leben, und dazu noch das eines Kindes, gerettet hatte? Einer weiteren Frau wurden leichte Schnittverletzungen im Gesicht und an den Händen gesäubert. Bis auf winzige Narben, die man kaum bemerken würde, war sie mit dem Schrecken davongekommen.

      Gepanzerte Fahrzeuge des Sonderkommandos kamen behäbig herangerollt und fuhren bis neben die bereits anwesenden Wagen, aber zwei fuhren weiter genau auf die Kreuzung und stellten sich direkt neben die beiden Verwundeten, die immer noch auf der Straße lagen, und schirmten sie zum Neubau hin ab. Türen sprangen auf, Beamte, in dunkler Kleidung und mit Helmen und Splitterschutzwesten ausgestattet, liefen auf die Fahrbahn und sicherten die Umgebung, schwere Schilde in ihren Händen haltend. Andere nahmen den Mann und den kleinen Jungen auf, luden sie in die Fahrzeuge und fuhren, nachdem alle wieder eingestiegen waren, zu den bereitstehenden Rettungswagen. Das alles geschah so schnell, dass lediglich ein Schuss den Asphalt traf und niemanden verletzte. Aber alle zuckten zusammen und nun war das Fenster lokalisiert, hinter dem der Schütze sitzen musste.

      Dem angeschossenen Mann hätte man vielleicht noch helfen können, wenn er sofort, nachdem er getroffen worden war, in eine Klinik gekommen wäre, aber so war er verblutet und schon etliche Minuten ohne Atmung gewesen. Eine dennoch eingeleitete Reanimation blieb erfolglos.

      Ken hatte einen Durchschuss unter dem rechten Schlüsselbein. Er würde bald wieder auf den Beinen sein und bis auf zwei geringe Nachwirkungen keine größeren Schäden davontragen. Da war zum Einen die kleine Narbe an seiner Schulter, die aussehen würde, als hätte ein Arzt bei der Pockenimpfung gepfuscht, und zum Anderen seine Erinnerung, obwohl er eigentlich gar nichts wusste. Dennoch erzählte er später die ganze Geschichte, das entstandene Chaos, das Eintreffen und die Maßnahmen von Rettungsdienst und Polizei, als hätte er das Alles von einem sicheren Logenplatz aus verfolgt. Zum Beweis dafür, dass er dabei gewesen war und auch selber betroffen war, würde er dann seine Narbe zeigen. Das würde jedes Mal eine tolle Geschichte werden, nur Naomi würde eifersüchtig und neidisch werden, weil es nicht ihre Geschichte war. Sie konnte sich nämlich an nichts mehr erinnern. Ihre Erinnerung setzte nach dem ersten Schuss erst in dem Moment wieder ein, als ein freundlich lächelnder Mann ihr linkes Ohr rieb und dies höllisch brannte.

      Sie fragte nach ihrem Freund, und man sagte ihr, es würde Alles wieder gut werden. Dennoch dauerte es eine geraume Zeit, bis man sie vollends beruhigt hatte. Das Schlimmste aber war, dass die ganze Angelegenheit Kens Geschichte war und nicht ihre, denn sie als die weltgrößte Geschichtenerzählerin wusste nicht mehr, was geschehen war. Da würde es auch nicht helfen, wenn sie später ihr vernarbtes Ohr zwischen die Finger nahm und daran rieb.

      Die letzten Panzerwagen rollten heran und aus einem weiter hinten anhaltenden Fahrzeug stieg eine imponierende Gestalt. Am Wagen vorbei nahm er die gesamte Szene in sich auf.

      »Roger?«, wurde er angesprochen.

      Er wandte sich um und erblickte seine beiden Freunde David Solomon und Robert Mathenge. »Guten Morgen David, hallo Robert«, erwiderte Roger Hanley, der Einsatzleiter.

      David Solomon berichtete knapp: »Vermutlich ein einzelner Schütze, oberstes Stockwerk. Meine Jungs sind bereit und ich warte nur auf deinen Befehl.«

      Solomon war der Leiter des Sondereinsatzkommandos. Er hatte seine Leute an der Häuserfront rechts und links neben dem Eingang Aufstellung nehmen lassen. Sie warteten nur noch darauf, das Gebäude zu betreten, wobei sie dort unten relativ sicher waren, denn um einen von ihnen im toten Winkel zu erwischen, hätte sich der Schütze schon recht weit aus dem Fenster lehnen müssen und hätte dabei selber ein wunderbares Ziel für die Scharfschützen abgegeben. Diese hatten in sich in den Häusern gegenüber des Neubaus befindenden Zimmern Position bezogen, nachdem die Bewohner zum Verlassen ihrer Wohnungen aufgefordert worden waren, und zielten auf das Dachgeschoss.

      »Ich warte nur noch auf die Bestätigungen«, beendete Mathenge, der Chef der Präzisionsschützen, seinen kurzen Bericht.

      »Danke«, antwortete Roger, drehte sich wieder um und überblickte die Kreuzung.

      Die noch tief stehende Sonne würde gleich für kurze Zeit hinter dem Gebäude verschwinden. Dann würde niemand mehr geblendet werden, und auch der letzte Scharfschütze hätte freie Sicht. Eine bedrückende Stille senkte sich für einen Moment über das Geschehen.

      »Wenn das die Ruhe vor dem Sturm war«, dachte Roger bei sich, und es war ruhig, von den etwa zweihundert anwesenden Personen sprach kaum jemand »dann würde es einen schlimmen Orkan geben.«

      Sioux City / Iowa, Montag 26. April, 08:05 Uhr

      Greg Bascomp griff nach seinem Mikrofon, drückte die Sprechtaste, nannte seine Rufnummer und fügte hinzu: »O.K. Ich hab`s mitgekriegt, alle zur Allan Street. Verkehrswidriges Verhalten. Ich bin auf dem Weg.«

      »Sei vorsichtig«, ermahnte ihn Nancy, die junge Kollegin, die Funkdienst in der Leitstelle hatte.

      Greg war zweimal mit ihr ausgegangen. Sie stand auf seine blonden Stoppelhaare und seine klaren hellblauen Augen und er auf ihre Kurven. Nach der zweiten Verabredung waren sie bei ihm gelandet und ihr starkes Verlangen hatte ihnen beiden eine lange Nacht beschert, in der keiner von ihnen zu kurz gekommen war. Doch bereits am nächsten Morgen hatte sie sich verändert.