Das Lied des Steines. Frank Riemann. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Frank Riemann
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742782533
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/ Neusüdwales, Mittwoch 28. April, 20:00 Uhr

       Ayers Rock, Donnerstag 29. April, 00:00 Uhr

       Australien, Dienstag 18. Mai, 08:00 Uhr

       Outro

       Koda

       Nachwort

       Dankesworte

       Hinweise

       Impressum neobooks

      Das Lied des Steines

      Frank Riemann

      Santiago de Chile, Montag 26. April, 05:00 Uhr

      Der alte wackelige Bus kämpfte sich mühsam durch die engen Straßen.

      »Natürlich habe ich keinen Sitzplatz mehr bekommen«, dachte sie. »Ich habe noch nie einen Sitzplatz bekommen. Schon wieder so ein verdammter Montagmorgen. Und das Wochenende war auch wieder die Hölle. Diese ewigen Streitereien halte ich nicht mehr lange aus. Ist das noch der Mann, den ich geheiratet habe, weil ich ihn liebe? Früher war er witzig, wusste zu unterhalten, war aber ein ruhiger ausgeglichener Typ. Doch dann wurde er nach und nach verschlossener, härter. Irgendwann war er rechthaberisch, etwas, was er früher nie war. Dann hat er unsere einzige Tochter, Sandra, aus dem Haus gejagt. Und jetzt? Seitdem er entlassen wurde, ist es noch schlimmer. Er steht spät auf, setzt sich vor den Fernseher und zum Frühstück gibt es bereits die erste Flasche Bier. Wenn ich nachmittags nach Hause komme, sind es schon einige mehr und er wartet nur noch darauf, dass ich ihm etwas zu essen mache.

      Und oft gibt es dann abends Streit. Über irgendwelche Zeitungsberichte. Er hatte natürlich Recht. Über das Fernsehprogramm. Er hatte natürlich wieder Recht. Über Vorfälle an meinem Arbeitsplatz. Selbst dabei hatte er Recht. Er hatte einfach immer Recht«.

      Ihr war bewusst, dass es für ihn nicht einfach war. Durch die Arbeitslosigkeit fühlte er sich zurückgesetzt, wertlos, und versuchte, sich auf diesem Wege zu behaupten, aber allmählich wurde es ihr zu viel.

      Der Bus hielt und sie war die Einzige, die ausstieg. Jetzt hatte sie noch einige Hundert Meter zu gehen, bis sie in der kleinen Näherei ankam, in der sie nun schon seit über zwanzig Jahren arbeitete. Ihre kleinen stämmigen Beine trugen sie schleppend vorwärts. Mittlerweile taten ihr die Waden schon morgens weh.

      »Was ist nur aus meinem Leben geworden?«, ging ihr durch den Kopf. »Wo ist der liebevolle Mann, mit dem ich alt werden wollte? Wo ist das schöne Häuschen, oder zumindest die geräumige Wohnung, in der die Enkelkinder herumtollen sollten? Was ist aus den schicken Kleidern geworden, in denen mich mein Mann ins Restaurant und ins Theater ausführen sollte, oder wenigstens ins Kino. Ich träumte doch davon, in einem offenen roten Wagen übers Land zu fahren«, sehnte sie sich in Gedanken. »Der Wind spielt in meinen Haaren und ich singe glücklich das Lied mit, das aus dem Radio klingt.«

      Plötzlich rissen ihre Träume ab, denn sie war tot!

      Minsk / Weißrussland, Montag 26. April, 07:10 Uhr

      Er war guter Laune. Nein, das stimmte nicht ganz. Er war in hervorragender Stimmung. Es war fantastisch; er schwebte geradezu. Was für ein herrlicher Tag. Die Sonne schien, vereinzelt waren Wolken am sonst klaren Himmel zu sehen und es war das erste Mal seit Jahren, dass er in Hochstimmung ins Ministerium ging.

      Seit knapp zehn Jahren war seine Frau jetzt tot. Diesen Schock hatte er lange Zeit nicht verarbeitet. Er war zum Einsiedler in einem Hochhaus mit Dutzenden Bewohnern geworden. Er kümmerte sich nicht um sein Äußeres, er kümmerte sich nicht um seine Wohnung. Er verließ sie nur, um zu arbeiten oder um einzukaufen. Überall lagen Essensreste und standen leere Gläser herum. Dicke Flausen auf dem Teppich, dicker Staub auf den Regalen, dicker Staub in seinem Kopf. Es war ihm alles egal. Er lebte in seiner eigenen kleinen Welt, in der sie auch noch lebte. Im Ministerium ließ man ihn in Ruhe. Er wertete die Akten aus, die man ihm gab, erstellte Statistiken und fertigte Berichte an. Niemand bemerkte an ihm eine Veränderung, von seinem Erscheinungsbild einmal abgesehen. Vormals, unter Sowjetherrschaft hätte man ihn deswegen schon längst zur Ordnung gerufen, aber heute hatte man andere Probleme.

      Und dann kam sie: Natascha Petrovka war eine neue Mitarbeiterin des Ministeriums und für Planung und Organisation zuständig. Sie sah fabelhaft aus und hatte sofort zahlreiche Bewunderer. Von alldem bekam er allerdings nichts mit. Seine leblose Hülle hockte in seinem schlichten Büro und arbeitete stoisch vor sich hin.

      Sie begegneten sich das erste Mal auf einem der vielen Flure, als sie sich versehentlich anrempelten. Verschreckt versuchte er seine Unterlagen zu ordnen, die herunter gefallen waren. Als sie ihm helfen wollte, schob er hastig die Blätter zusammen und verschwand eilig im nächsten Aufzug.

      Zwei Tage später tauchte sie in seinem engen Büro auf. Mit seinen eingefallenen Augen im blassen Gesicht schaute er sie ängstlich an.

      Sie sagte: »Ich habe ja schon viele kaputte Typen gesehen, Tawarischtsch, aber keiner war so fertig, wie Sie. Sie brauchen ein Bad, eine Rasur, etwas Ordentliches zu essen und Schlaf. Ich bringe Sie heute nach Hause.«

      Natascha hatte ihn vom Büro abgeholt, heimgefahren, geschaudert als sie seine verwahrloste Wohnung sah und sich an die Arbeit gemacht. Sie hatten viel miteinander gesprochen und er fragte sich, was sie wohl in ihm gesehen hatte, bei ihrer ersten Begegnung.

      Nach einigen Wochen war er wieder auf den Beinen, soweit, dass er sie zum Essen ausführen konnte. Beim Dessert nahm sie zum ersten Mal seine Hand und sagte: »Du bist ein wundervoller Mensch, Pjotr. Dass Menschen sterben, ist der Lauf der Dinge. Halte Lara in Ehren, aber zerstöre nicht dein eigenes Leben. Das hätte sie nicht gewollt.«

      Da begriff er das erste Mal, was er sich all die Jahre angetan hatte. Das war Freitagabend gewesen, und sie hatten das ganze Wochenende miteinander verbracht.

      An diesem Montagmorgen pfiff er ein fröhliches Liedchen, warf einen letzten Blick in den Spiegel, band sich die Krawatte, griff nach Aktentasche und Jacke und verließ die aufgeräumte Wohnung.

      Er hatte das Haus noch nicht verlassen, da war er tot!

      Santiago de Chile, Montag 26. April, 07:25 Uhr

      »Welch ein lausiger Wochenanfang«, dachte Benito Latas, als er zum Tatort kam. Und als wenn ein Mord am Montagmorgen nicht schon genug wäre, fing es jetzt auch noch an zu regnen. Zwar nur leicht, aber es verbesserte seine Stimmung nicht gerade. Er zog seinen Mantel enger. »Also«, wandte er sich dem jungen uniformierten Beamten zu »was liegt an?«

      »Wollen Sie sich nicht vorher die Leiche ansehen, Kommissar?«, fragte dieser zurück.

      Ben wusste, dass er das eigentlich tun müsste. Es gehörte zu seinen Aufgaben, die Leiche auf besondere Merkmale zu untersuchen, aber an diesem grauen Montagmorgen verspürte er keine große Lust. Er brauchte sich keine frischen Toten mehr anzusehen, er hatte genug davon. Er war zwar erst 36 Jahre alt, hatte aber schon mehr mitgemacht, als viele seiner älteren Kollegen. Er hatte genug von offenen Schädelverletzungen, wenn jemand versucht hatte, sich das