Pathologie: Ben stutzte. Was sollte er sich darüber für Notizen machen? Die Untersuchung hatte ergeben, dass das Opfer erst einige Stiche hinnehmen musste, die zwar einige Gefäße verletzten und einen Pneumothorax zur Folge hatten, dass diese die Frau aber nicht sofort getötet hatten. Tödlich waren die Stiche, die die größeren Arterien und die inneren Organe wie Leber und Milz verletzten, so dass die Todesursache der Schock, der Pathologe nannte es eine vasovagale Syncope, und der rasche große Blutverlust war. Allerdings musste das Alles wahnsinnig schnell vonstatten gegangen sein. Der Täter musste wie rasend auf sie eingestochen haben.
Ben hatte den Mediziner einmal gefragt, wie er das alles noch aus so einem Klumpen Fleisch herausfinden konnte, und er hatte ihm erklärt, das hätte etwas mit den Stoffen im Blut zu tun, und welche Wunden noch angefangen hätten zu heilen und welche nicht, was man jedoch nur unter dem Mikroskop erkennen konnte, oder so ähnlich. Das Meiste hatte er bald wieder vergessen.
Seltsamerweise war bei der ganzen Raserei das Herz so gut wie verschont geblieben, vielleicht musste man auch an einen Ritualmord denken, meinte der Rechtsmediziner zu Ben.
Pathologie: Opfer, zahlreiche Stichwunden, verblutet, vielleicht Ritualmord?
Spurensicherung: Tatwaffe großes Fleischermesser, Fingerabdrücke ja, am Tatort keine weiteren Hinweise.
Sein eigenes kleines Schaubild schrieb Ben links auf das Blatt untereinander mit etwas Platz zwischen den einzelnen Rubriken, um eventuell im Zuge der Ermittlungen Nachträge vorzunehmen. Etwas weiter rechts, ebenfalls untereinander, schrieb er weiter.
Computerdaten: Fingerabdrücke ergebnislos, Messer ohne weiteren Hinweis, kein Anhaltspunkt auf mögliches Ritual, Verdächtige negativ.
Natürlich hatte der Computer etwas ausgespuckt, doch das war das, was für Ben übrig geblieben war. Der Besitzer der Fingerabdrücke, die Nummer Eins der mutmaßlichen Täter, war im Computer nicht gespeichert, was bedeutete, dass er bisher noch nicht bei der Polizei bekannt war. Die Waffe war ein Messer, wie man es an den Schlachthöfen der Stadt benutzte, extrem scharf und mit einer langen Klinge. Dort arbeiteten unzählige Menschen, es wäre ein Riesenaufwand gewesen, diese Alle zu überprüfen, und das Messer musste nicht zwangsläufig daher stammen.
Aus den Dateien kamen zwei Rituale, die aber noch aus der Vergangenheit des Kontinents stammten, und die aller Wahrscheinlichkeit nach nichts mit dem vorliegenden Fall zu tun haben dürften.
Im 13.-16. Jahrhundert brachten die weitverbreiteten Inkas Menschenopfer dar, oft Kinder, um die Götter milde zu stimmen und ein Bergstamm im nördlich gelegenen Bolivien opferte das Erstgeborene, um Dämonen zu bannen.
Was die Verdächtigen anging, so konnte es praktisch jeder gewesen sein. Von den Anwohnern des Tatorts und den Angestellten der Näherei war kein Name schon einmal im Zusammenhang mit einem solchen Gewaltverbrechen bekannt geworden.
Ben begann kleine Würfel auf das Blatt Papier zu zeichnen, was er öfter tat, wenn er grübelte oder telefonierte. Dass er keinen Hinweis auf einen möglichen Täter hatte, wunderte ihn nicht sonderlich.
Santiago war ein Sumpf von einer Großstadt, ein über 5 Millionen Einwohner Sumpf. Kleinere Vergehen wurden schon lange nicht mehr verfolgt. Man nahm zwar die Anzeigen noch auf, heftete sie aber sofort unter `ungeklärt` oder `erledigt` wieder ab. Es gab Viertel, die waren die reinsten Ghettos. Verfallen, kriminell, mit erbarmungswürdigen Bewohnern in den Ruinen und ihren Abfällen auf den Straßen. Oft kam es hier gar nicht erst zur Anzeige, weil die Menschen noch mehr Angst vor der Polizei hatten, als vor Dieben, Schlägern oder Rauschgifthändlern. Die Aufklärungsrate der Behörden von Santiago war gering und die Dunkelziffer der Verbrechen war riesig.
Ben träumte weiter vor sich hin und kritzelte jetzt kleine Kugeln und Pyramiden.
Oft genug nahmen die Menschen hier ihre Probleme selbst in die Hand, dadurch gab es ja erst diesen unüberschaubaren Berg an Straftaten.
Ben zeichnete Totenköpfe und gekreuzte Schwerter. »So wie bei uns früher«, dachte er.
Nachdem Hector damals mitbekommen hatte, was Ben und Mondgesicht zugestoßen war, vor allem die Prügel für den Neuen, beschloss er, obwohl Ben erst so kurze Zeit bei ihnen war, diese Tat zu rächen. Diese Schmach musste gesühnt werden, niemand vergriff sich an einem der ihren.
Dass Hector ihn so schnell anerkannte, ließ Bens Zuneigung zu ihm noch wachsen und machte ihn stolz; hier galt er etwas. Hector wollte die gleiche Taktik anwenden wie die Torros. Sich treffen, den Feind
einzeln abpassen, zuschlagen im wahrsten Sinne des Wortes und wieder verschwinden. Die Diabolos waren begeistert, reduzierte diese Strategie das Risiko einer eigenen Verletzung doch auf ein Minimum. Man wusste zwar immer noch nicht, wo der Gegner sein Hauptquartier hatte, aber wenn man erst einmal den Einen oder Anderen `befragt` hätte, würde man schon dahinter kommen.
Nach wenigen Tagen waren ihnen bereits drei Torros in die Hände gefallen. Jene weigerten sich aber beharrlich, ihr Geheimnis preiszugeben. Beim Ersten war Bens Wut noch frisch und er mischte kräftig mit und schlug hart zu. Hector und ein anderer großer Junge, Esteban, hielten ihn für die Anderen parat. Er hatte keine Möglichkeit zur Gegenwehr und Ben rächte sich solange, bis Esteban den Geschlagenen fallen ließ und meinte, es wäre nun genug.
Beim Zweiten hielt er sich schon zurück und beim Dritten wurde ihm seine eigene unfaire Lage wieder bewusst, der Torro tat ihm Leid und er schlug gar nicht mehr zu. Nach einer Weile ging er dann zwar noch zu den Treffen, mittlerweile war zwischen den beiden Gruppen ein offener Krieg ausgebrochen, aber nicht mehr mit auf die Jagd.
»Du bist feige, Ben«, warfen die Anderen ihm vor.
»Ich? Ich bin feige? Weil ich nicht mehr zu fünft oder zu sechst auf einen Wehrlosen einschlagen will? Ihr seid feige, oder nennt Ihr einen Hinterhalt mit Zahlenmäßiger Überlegenheit etwa mutig?«
Hector ergriff das Wort: »Nein, aber clever. Wir machen das doch alles nur für dich, Benito.«
»Für mich? Habe ich Euch darum gebeten? Ihr macht das weil, ach, was weiß ich weswegen, aber auf jeden Fall nicht für mich.«
»Willst du nicht mehr mit uns zusammen sein?«, fragte Mondgesicht.
»Doch schon, aber nicht dafür. Dafür braucht Ihr mich nicht, dafür seid Ihr genug.«
Nach einigem Hin und Her beschloss man, in kindlicher Unlogik, dass man Bens Standpunkt zwar akzeptiere, dass man ihn aber trotzdem für feige hielt, und er müsse erst eine Mutprobe bestehen, wolle er weiterhin bei den Diabolos bleiben.
Ben schreckte wie aus einer Trance auf und malte gerade ein seltsames Gesicht, wie er es als kleiner Junge oft getan hatte. Dazu zog er einfach fünf kleine Linien nahe beieinander übers Papier, ohne dass diese sich berührten. Danach verband er die Endpunkte nach Gutdünken miteinander und zeichnete dort, wo er dachte, dass es ungefähr passen würde, Haare, Augen und Zähne ein, sodass ein Gesicht entstand, das meist witziger aussah, als die in den Cartoons. »Das habe ich ja schon Jahre nicht mehr gemacht«, dachte er. Er überflog seine Notizen und seine wie beiläufig gemachten Zeichnungen. Sein Blick blieb an etwas haften, das unmöglich von ihm sein konnte. Er schaute sich um, aber keiner seiner Kollegen zeigte ihm durch einen scheuen versteckten Blick an, ob man ihn verwirren oder hochnehmen wollte, und ob man jetzt auf seine Reaktion wartete. Ben musste es also selber geschrieben, oder sollte er lieber sagen, gezeichnet, haben. Aber es blieb seltsam. Erstens hatte er noch niemals so etwas gesehen und schon gar nicht selber zu Papier gebracht, und Zweitens konnte er sich nicht daran erinnern, es eigenhändig niedergeschrieben zu haben.
Noch weiter rechts, neben den Computerdaten und unter einer Reihe gemalter Autos und Panzer, war eine Art Schrift zu sehen, oder Zeichen. Seltsame Kringel und Schleifen, die sich ohne Unterbrechung über mehrere Zeilen hin und her zogen. Ben kratzte sich am Kopf, er konnte sich keinen Reim darauf machen.
Was hatte das zu bedeuten?
Mombasa