Ihr ältester Sohn, Malcolm, hatte heute die Zusage von zwei renommierten Universitäten erhalten: Harvard u. John Hopkins. Letztere bot ihm ein volles Stipendium an. Malcolms Favorit war allerdings Harvard. Stevens tagelanges Büffeln hatte sich endlich bezahlt gemacht. In seiner letzten Mathematikprüfung schrieb er eine Zwei minus. Somit war seine Fünf im Zeugnis wieder ausgeglichen und seine Versetzung am Ende des Schuljahres nicht mehr gefährdet.
Amy zerriss die Salatblätter in kleine Stücke und legte sie in eine große Schüssel. Edward genoss seinen Apfel in vollen Zügen. „Was machen die Mädchen?“, fragte er mit vollem Mund. Er entsorgte den Rest des Apfels in der Bio Tonne.
„Linda musste ich heute Hausarrest geben.“
„Was hat sie angestellt?“ Er wusch sich die Hände im Becken neben Amy.
„Obwohl wir es ihr heute Morgen erst verboten hatten, war Linda nach der Schule zu ihrer Freundin gegangen, anstatt sofort nach Hause zu kommen.“ Sie machte eine Pause. „Ich hatte mit ihr vorhin ein langes Gespräch. Irgendwann hat sie mir dann gestanden, was ihr eigentliches Problem ist.“
„Und das wäre?“ Edward trocknete sich die Hände mit einem Küchentuch, warf es in den Müll und sammelte die Zutaten für die Salatsoße zusammen. Amy ließ das Wasser aus der Spüle.
„Linda ist eifersüchtig auf Jesse. Sie ist davon überzeugt, wir würden Jesse bevorzugt behandeln. Ihr mehr erlauben.“
„Das ist doch völlig absurd, das hast du ihr doch hoffentlich gesagt, oder?“
„Natürlich. Sie glaubt mir nur nicht. In dem Punkt ist sie völlig stur.“
„Soll ich mal mit ihr reden?“
„Das würde im Moment nicht viel bringen. Linda hat auf Durchzug geschaltet. Lassen wir ihr etwas Zeit.“ Steven stürmte die Küche. Seine Freude über die gute Note in Mathematik musste er unbedingt seinem Vater erzählen. Amy kümmerte sich derweil um die Salatsoße. Edward tat vor seinem Sohn so, als würde er zum ersten Mal von der Zwei minus erfahren. Er wollte nicht verraten, dass ihm Amy bereits davon in Kenntnis gesetzt hatte. Steven berichtete haargenau, Aufgabe für Aufgabe, von der Matheprüfung und welche Antworten er gegeben hatte. Edward konnte ihm direkt ansehen, wie stolz er selbst darauf war, wie einfach Mathe doch sein konnte.
Kurz nach sieben Uhr war das Abendessen fertig. Steven und Linda deckten den Tisch im Esszimmer. Aus der Küche holten sie sechs Teller und Bestecke. „Ihr braucht nur fünf Gedecke“, rief Amy ihren Kindern hinterher. „Jesse ist noch bei Jerry, sie wird bei ihm zu Abend essen.“ Ohne Kommentar verräumte Steven den sechsten Teller und begab sich mit dem Rest ins Esszimmer. Bei Linda verlief es nicht kommentarlos. „Aha, das Prinzesschen darf also wieder auswärts essen, während der Schulwoche. Schon klar.“ Amy verdrehte nur die Augen und sah Linda genervt hinterher. Edward schwieg ebenfalls. Er schob Lindas Laune auf die aufkeimende Pubertät. Mit ihren dreizehn Jahren wurde es langsam immer schwieriger Linda etwas zu sagen. Er half lieber seiner Frau beim transportieren des Essens.
Um den Abwasch kümmerten sich Malcolm und Steven. Edward und Amy machten es sich im Wohnzimmer bequem. Edward machte den Fernseher an und zappte durch die Kanäle auf der Suche nach einer passenden Sendung. Sie blieben bei einer Reportage über Lebensmittel und deren ansteigenden Preise hängen. Nach Ende der Sendung sah Amy auf die Uhr. „Es ist schon nach acht Uhr. Wo bleibt Jesse nur?“ Edward fing wieder an durchzuschalten. Ohne seinen Blick vom Fernseher zu nehmen, gab er seiner Frau eine Antwort. „Wahrscheinlich wollte Jerrys Mutter mal wieder nicht lange rumkochen und ist mit den Beiden irgendwo hingefahren zum Essen. Und du weißt ja, wie lange Bedienungen oft brauchen. Andrea ist ja dabei und sie weiß, dass die Kinder morgen wieder zur Schule müssen. Sie wird schon dafür sorgen, Jesse baldmöglichst nach Hause zu bringen.“ Amy schien wieder beruhigt zu sein, sie legte ihren Kopf auf seine Schultern und genoss seine Nähe.
Die Zeit verging. Mittlerweile war es kurz vor neun Uhr. Jesse war noch immer nicht zu Hause. Edward beschloss Jesse auf dem Handy anzurufen. Seine Frau war an seiner Schulter eingeschlafen, behutsam legte er ihren Kopf auf die Sofalehne, damit er aufstehen konnte. In der Küche nahm der das Telefon von der Station und wählte die Nummer. Es läutete lange hin, dann folge ein „Besetzt“-Zeichen. Empört starrte er auf den Hörer. Sie hatte ihn weggedrückt. Edward gab nicht auf, versuchte es bei Jerry auf dem Handy – Mailbox. Dasselbe bei Jerrys Mutter. Edward wählte erneut Jesses Nummer, nahm sich vor es solange zu versuchen, bis sie ranging. Dieses Mal aber meldete sich sofort die Mailbox. Sie hatte ihr Handy anscheinend ausgeschaltet. „Was erlaubt sich die eigentlich?“
„Jesse?“ Edward bemerkte nicht, dass Amy neben ihm stand. Er nickte schließlich. „Erst hat sie mich weggedrückt, jetzt ist ihr Handy aus. Bei Jerry und seiner Mutter hab ich es auch schon versucht. Nur die Mailbox.“
„Fahr zum Haus.“ Edward hatte dies auch schon geplant, überlegte deshalb nicht lange. Er schnappte sich seine Autoschlüssel, gab seiner Frau einen Kuss und startete los. Die Sonne war längst untergegangen. Edward parkte an der Straße. Das Haus, in dem Jerry mit seiner Mutter wohnte, war dunkel. Es brannte kein Licht. Es stand auch kein Wagen in der Auffahrt. Edward ahnte bereits, dass niemand aufmachen würde, klopfte aber trotzdem an die Haustür. Es rührte sich nichts. Er spähte durch das Fenster neben der Tür, konnte aber nichts erkennen. Erneut läutete und klopfte er. Das Haus blieb ruhig.
Zurück in seinem Wagen rief er seine Frau an. Sofort nach dem ersten Läuten hob sie ab. „Im Haus ist keiner. Der Wagen ist auch nicht da.“
„Dann sind sie irgendwo beim Essen. Entweder in der Pizzeria oder in der Pool Hall.“
„Der Meinung bin ich auch. Ich werde dort vorbeifahren. Melde mich dann. Ich liebe dich.“
Edwards Verärgerung über Jesse wuchs immer mehr. Unentschuldigt zu spät zu kommen, gab es noch nie. Sobald er sie gefunden hatte, würde er Jesse eine ordentliche Standpauke verpassen. Ihr Verhalten war mehr als unangebracht und dass Jerrys Mutter dabei auch noch mitspielte, übertraf das Maß bei Weitem.
Edward fuhr zuerst zur Pool Hall, dort waren Jesse und Jerry am liebsten.
Terry Holder, der Besitzer, hatte vor fünfzehn Jahren bei einer Zwangsversteigerung das Gebäude eines Supermarktes erstanden. Aus eigener Tasche führte er einen enormen Umbau vor und aus dem alten Supermarkt wurde eine riesige Billardhalle mit sieben Tischen, genug Platz für fünf Dartscheiben und sogar ein kleines Fast Food Restaurant. Terrys Poolhall wurde zum beliebten Treffpunkt für viele Jugendliche und auch Erwachsene. Jesse und Jerry hielten sich sehr oft dort auf und aßen Hamburger mit Pommes Frites.
Edward kämpfte sich durch die vielen Gäste, suchend nach Jesse, Jerry oder dessen Mutter. Er konnte sie aber nirgendwo entdecken. Er beschloss hinüber zur kleinen Bar zu gehen, welche sich neben dem Restaurant befand. Terry arbeitete dort als Barkeeper. „Hallo Terry“. Ein Mittfünfziger, großer Mann mit Glatze wandte sich zum.
„Ah, guten Abend Reverend! Was darf es denn sein?“
„Ich bin auf der Suche nach meiner Tochter, Jesse. War sie heute hier?“ Terry musste überlegen, während er ein paar Gläser trocken rieb. „Also ich weiß, sie war gestern hier, mit ihrem Freund Jerry. Aber heute, nein, heute war sie nicht hier.“
„Und Jerry? War er hier?“ Auch dieses Mal musste Terry verneinen. Edward bedankte sich und verließ die Billardhalle wieder. Dann blieb ihm nur noch Raphaelos Pizzeria. Diese war nicht so menschenüberfüllt wie die Poolhall, Edward hatte einen besseren Überblick über die Gäste, da alle an Tischen verteilt saßen. Er konnte aber Jesse nicht entdecken. Er fragte alle Kellner und Kellnerinnen, zeigte Fotos von Jesse und Jerry herum. Keiner hatte sie heute Abend gesehen, zuletzt waren sie vor drei Tagen in der Pizzeria.
Resigniert saß Edward wieder in seinem Wagen. Mittlerweile war er nicht mehr sauer auf seine Tochter, nur noch besorgt. Hatten sie vielleicht einen Unfall? Dann hätte ihn Jesse aber nicht weggedrückt. Was