Sehen will gelernt sein. Wilfred Gerber. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Wilfred Gerber
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783847608677
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Samstag, eine halbe Stunde vor Beginn des Spiels, trafen alle pünktlich ein. Mo stellte den Bierkasten auf die Terrasse, die Luft war heute kälter als jeder Kühlschrank. Er gab sofort jedem der wartenden Männer eine Flasche. Wolfi Wagner öffnete sie mit dem grünen Einwegfeuerzeug, lehnte sich zurück und genoss in scheinbarer Ruhe den ersten Schluck. Er saß ungünstig. Nur durch akrobatische Verrenkungen konnte er von Zeit zu Zeit einen Blick auf den Fernseher erhaschen, trotzdem blieb er eisern auf seinem Stuhl am großen Tisch sitzen. Die Augen musterten dabei für einige flüchtige Momente verstohlen Moritz Kahl. Wolfi war vor seiner Haft oft zur Eintracht ins Waldstadion gefahren, verfolgte sonst jedes ihrer Spiele mit ungeteilter Aufmerksamkeit, heute irritierte ihn die fremde, ungewohnte Umgebung, dass er nicht in der Lage war, sich auf das Match zu konzentrieren. In der hintersten Ecke des riesigen Zimmers stand das unfertige Bild auf der hölzernen Staffelei. Es zog ihn unwiderstehlich an. Wolfi konnte nicht von ihm lassen, sein Blick wanderte unruhig zwischen der Staffelei und dem Fernseher hin und her. Entgegen seiner gewöhnlichen Art, trank er das Bier nicht zügig aus, vergaß die Flasche und bemühte sich durch verhaltene Gesten um Moritz´ Aufmerksamkeit. Ihm waren Wolfis Blicke nicht entgangen. Ich muss mich damals nach dem Gefängnis der Stasi auch so gefühlt haben wie er, dachte Kahl und sah ihm in die Augen.

      „Moritz, darf ich mir dein Bild aus der Nähe ansehen?“, rang sich Wolfi endlich durch.

      „Ja, wenn du willst, gehen wir hin“, antwortete Kahl. „Falls du Fragen hast, stelle sie mir ohne Scheu. Das Spiel ist eh langweilig geworden“, lächelte er zurück. Die beiden Männer erhoben sich, gingen, von den anderen Freunden unbemerkt, zur Staffelei und blieben vor ihr stehen.

      Lange wechselten sie kein Wort, doch Wolfi konnte es bald nicht mehr aushalten. „Ich weiß nicht recht, aber dein Bild gefällt mir.“

      „Ich zeigen dir warum“, sagte Moritz Kahl. „Sehen will gelernt sein. Das ist das dritte aus meinem Zyklus „Das Sichtbare im Unsichtbaren„. Geh etwas näher ran. Was siehst du?“ Moritz wartete geduldig, bis Wolfi sich wieder vom Bild gelöst hatte.

      „Ich sehe unterschiedliche Striche. Zwischen ihnen verstecken sich kleine Bilder, ist das so oder rede ich Unsinn?“ Wolfi zog den Kopf ein und schaute Kahl verunsichert an.

      „Nein, du redest keinen Unsinn, vielmehr hast du auf Anhieb erkannt, wozu ganz andere schon viel länger gebraucht haben.“ Kahl war verblüfft, ließ es sich aber nicht anmerken. „Ich habe versucht, das Abbild des Realen durch einfache Formen und Farben neu zu erschaffen, und wie du richtig erkannt hast, zwischen den Pinselstrichen, treffen sie aufeinander, sind viele kleine Bilder im Bild entstanden. Einige waren gewollt, die meisten aber sind ohne mein Zutun während des Malens unabsichtlich entstanden. Wenn du dich ganz auf das Bild einlässt, wirst du noch mehr entdecken. Nimm dir Zeit. Ich lasse dich jetzt alleine.“ Kahl ging zurück zu den anderen, setzte sich versonnen an den Tisch. Es ist schon erstaunlich, was er in dieser kurzen Zeit erkannt hat, dachte er und schüttelte ungläubig den Kopf.

      Wolfi blieb lange stumm vor dem Bild stehen, zeigte voller Stolz, als Moritz zu ihm zurückgekehrt war, auf die vielen kleinen Abbilder, die er noch entdeckt hatte.

      „Gut, Wolfi, du hast wichtige Details in meinem Bild gesehen, jetzt zeige ich dir versteckte Formen, deren Wesen du selbst ergründen musst, ich bin mir aber sicher, du schaffst es.“

      Moritz Kahl gelang es durch seine ruhige, bedächtige Art, dass Wolfi nicht auf die Idee kam zu behaupten: „Was soll ich sagen, eigentlich verstehe ich überhaupt nichts von Malerei“, sondern sich verwundert sprechen hörte. „Ich hätte nicht im Traum daran gedacht, so viel in deinem Bild zu sehen, nur weil ich mich zum ersten Mal, seit ich denken kann, auf Kunst eingelassen und erst durch dich erkannt habe, dass ich zwar ein kleiner Krimineller bin, aber auch ein lebendiger, fühlender Mensch. Beim Betrachten verspürte ich eine unglaubliche Freude, die sich noch steigerte, als mir die anderen Seiten deines Bildes bewusst wurden.“

      „Das freut mich.“ Kahl durchströmte bei den durchdacht formulierten Worten ein Glücksgefühl. „Das Entdecken hat dir also gefallen? Jetzt zeige ich dir, was du noch nicht gesehen hast. Tritt bitte drei Schritte zurück, schließe die Augen, öffne sie wieder, wenn du bereit bist und betrachte das Bild aufs Neue. Ich komme zu dir zurück, falls du nicht mehr weiter weißt.“

      „Moritz!“, rief Wolfi nach einigen Minuten. „Ich bin am Ende, du musst mir helfen.“

      „Kein Grund zur Verzweiflung. Nur Geduld. Sehen will gelernt sein. Vieles bleibt für immer verborgen, wenn wir nicht lernen, offen zu sehen. Das Wahre zeigt sich erst, wenn es erkannt ist.“

      2

      Die Aufregung war groß in der Frankfurter Vorortsiedlung. Zwei Polizisten hatten ihn in der Mitte, zehn johlende Kinder im Schlepptau, als sie die Nummer 54 in der Bert-Brecht-Straße erreichten.

      Am vergangenen Mittwoch war Wolfi Wagner acht Jahre alt geworden, die Feier fiel bescheiden aus, weil sich seine Mutter beharrlich geweigert hatte, sie in der Wohnung stattfinden zu lassen. Ihr war noch die vom letzten Jahr in guter Erinnerung, als er und seine Freunde es auf die Spitze trieben und im wilden Spiel das gute Geschirr zertrümmerten.

      Die Mutter hatte gerade die Schnitzel gewendet, als es klingelte. Wolfi konnte es nicht sein. Ein Uhr war nicht seine Zeit, nach Schulschluss traf er sich immer mit den Freunden aus der Straße und war nie pünktlich zum Mittagessen zuhause. Sie wischte sich an der Schürze die Hände ab, drückte den Türöffner und erwartete auf dem Absatz des Erdgeschosses den unangekündigten Besucher.

      „Frau Wagner?“, fragte der ältere Polizist und schob Wolfi in den Hausflur.

      Hektische rote Flecken zeigten sich auf ihrem Hals und Gesicht. Werden die schlimmsten Befürchtungen wahr, will dieser Teufel von Sohn mit seinen acht Jahren sich schon jetzt ins Unglück stürzen? Wo wirst du nur enden? Ach, Bub, verfluchter, du taugst nichts.

      „Frau Wagner, wir haben Ihren Sohn auf der Hauptstraße dabei erwischt, wie er, überaus geschickt für sein Alter, den Kaugummiautomaten an der Pizzeria aufgebrochen hat. Er war dabei nicht allein, aber sein Komplize konnte sich gerade noch rechtzeitig aus dem Staube machen. Ihr Sohn weigert sich standhaft, uns seinen Namen zu sagen. Wir wollten Ihnen das nur mitteilen. Ihr feiner Wolfi ist mit seinen acht Jahren ja noch nicht strafmündig. Es ist jetzt an Ihnen, ihn entsprechend zu bestrafen, oh, Entschuldigung, zu erziehen, muss es richtig heißen. Na, dann, auf Wiedersehen, und einen schönen Tag wünschen wir.“ Die beiden Polizisten musterten Wolfi mit finsterem Blick und machten sich gelassen auf den Weg durch die Grünanlagen zu ihrem Einsatzwagen. In der Sozialbausiedlung gehörten solche Vorkommnisse zum Alltag, waren schnell vergessen, die richtigen Verbrecher standen hier an jeder Ecke.

      Die Wohnungstür hatte sich hinter Wolfi geschlossen, da hagelte es Ohrfeigen. Der Mutter liefen die Tränen, sie hörten nicht auf zu schlagen, bis ihr Körper erschöpft aufgab, und sie verzweifelt stammelte. „Ich wusste es schon immer. Bub, verfluchter, du taugst nichts. Wart ab, bis der Vater kommt. Dann kannst du was erleben. Wart nur ab, Bub.“

      Sie drehte den Zimmerschlüssel von außen zwei Mal um, blieb ratlos vor der verschlossenen Tür stehen, kam wieder zu sich und eilte in die Küche zu den inzwischen angebrannten Schnitzeln.

      Mein Fehler! Ich habe mich erwischen lassen, warf sich Wolfi wütend im Kinderzimmer vor, das er, wenn er Glück hatte, nur für den Rest des Tages nicht mehr verlassen durfte. Seine Freunde auf der Straße vor dem Haus würden heute vergeblich auf ihn warten. Aber wenigstens hatten sie Mo nicht erwischt. Er würde dichthalten und niemals einen Freund verraten.

      Das hatte er auch nicht in all der Zeit, die Ehre verbot es ihm und das ungeschriebene Gesetz der Siedlung. Wenn sich aber doch einmal einer hinreißen ließ, der Polizei, aus welchem Grund auch immer, einen Tipp zu geben, hatte er verspielt und bekam in der Gegend keinen Fuß mehr auf den Boden. Wolfi hatte sich nach der Schule vom Meister nichts bieten lassen, sich sofort mit ihm überworfen und die Lehre zum Automechaniker schon nach einem halben Jahr geschmissen, doch das Fußballspielen hatte er bis auf den heutigen Tag nicht aufgegeben. Aus dem schmächtigen,