”Aber Sie wissen doch, dass Sie trotzdem die Steuerformulare auszufüllen haben?”
Ich blickte ihn aufmerksam an.
”Die haben Sie doch bekommen?”
”Nein, keine Ahnung.”
Er schüttelte den Kopf.
”Ihr hier im Osten denkt, es geht alles so gemütlich weiter.”
Er fingerte wieder in seinen Unterlagen. ”Ich gebe Ihnen eine Quittung über die sechzig Mark”, sagte er.
”Wohin sind die denn geschickt worden, die Formulare?” fragte ich.
Der Mann gab mir den Beleg in die Hand und sah in seinem Ordner nach.
”Reiterweg eins", sagte er.
”Ach, da wohnt mein Mann, da wohne ich schon lange nicht mehr.”
Ich betrachtete die Quittung.
”Kann ich die von der Steuer absetzen?”
Ludwig lachte kurz und trocken, machte aber sofort wieder auf steinerne Miene.
”Ich gebe Ihnen einen Rat”, sprach er, während er seine Papiere sortierte, den Koffer schloss; und ich auf dem Schreibtisch saß und ihm dabei zusah.
”Wenn Sie morgen früh, gleich ganz früh zum Finanzamt kommen, vielleicht lässt sich dann noch etwas machen. Melden Sie sich bei Frau Engels, pünktlich um acht Uhr. Aber Sie müssen wirklich kommen.”
Ich nickte, und Ludwig betrachtete kritisch, mehr oder weniger abschließend den Laden.
”Hoch kann der Umsatz ja hier nicht sein”, sagte er. „So was verkauft sich doch heutzutage überhaupt nicht.“
”Schwacher Umsatz”, bestätigte ich. ”Ich glaube, ich sehe mir erst mal meine Bücher an, bevor ich zu Ihnen komme.”
”Machen Sie das.”
Er ging zur Tür; und ich folgte ihm, um aufzuschließen.
”Auf Wiedersehen, Frau Simon, und kommen Sie wirklich.”
Als wir uns auf der Straße verabschiedeten, zögerte er, hob den Finger und sagte:
”Ich gebe Ihnen noch eine Empfehlung.” Er blickte mir direkt in die Augen.
”Ich glaube, der Laden hier bringt nichts, geben Sie ihn auf, beantragen Sie Sozialhilfe und werden Sie nie wieder selbständig, einverstanden? Also, auf Wiedersehen.”
Er drehte sich um und ging.
Sprachlos blieb ich an der Tür stehen und sah ihm nach.
Schließlich kehrte ich zurück zum Schreibtisch, öffnete die Schublade, nahm die vier Einhundertmarkscheine, die unter der Kasse lagen und steckte sie in die Brusttasche meiner Latzhose.
Ich schloss den Laden von innen ab, setzte mich an den Tisch und starrte aus dem Fenster. Ich hatte einen Schock.
In der Euphorie der Wende
In diesem Sommer war ich kaum aus dem Viertel gekommen. Hier war alles, was ich brauchte. Die Wohnung, das Stammlokal und die Arbeit. Wenngleich der Begriff Arbeit in die Irre führt, denn ich saß den ganzen Tag herum, wartete auf Kundschaft und war verstrickt in die aufreibende geistige Tätigkeit, die meinen künftigen Ruhm betraf. Oder meinte ich Reichtum? Von der Hitze wie festgenagelt, gab ich mich andererseits der Illusion hin, in einem südlichen Land zu sein, wo man an einem schattigen Platz vor sich hin döst und nur wenig braucht, um am Leben zu bleiben. Beide Optionen waren denkbar und in meinen Augen vollkommen gleichwertig. Was für ein Dilemma. Könnte es sich als hilfreich erweisen, einen unlösbaren Widerspruch zum Prinzip zu erheben? Um mich herum Menschen, die genau wussten, was zu tun war. Loretta, die ihre Glaskunst vorantrieb, Toni, der ein Barockhaus sanierte, Mona, die wieder Bilder malte. Maske, der sogar begründen konnte, welche Bedeutung der Boxkampf hatte. Man lebte, und ich war nicht einmal zum See gegangen wie früher. Spazieren, wandern, baden. Der Laden war eine Falle, Mona hatte das erkannt.
Ich las Bücher und Zeitschriften und dachte sogar längere Zeit über die sieben freien Künste des Altertums nach, unter denen sich seltsamerweise die Grammatik und die Logik befanden, aber weder Malerei noch Literatur. Kurz und gut, ich war rundum beschäftigt mit sinnlosen Ideen und hatte keine Ahnung, worauf es hier ankam, bis der Vollstrecker mir die Augen öffnete und sich alles ändern sollte.
In der Euphorie der Wende und unter dem Motto, dass nun alles möglich sei, hatten wir den Laden aufgemacht. Loretta, die Glasmalerin, besaß dieses Haus im Holländischen Viertel, hatte es mühselig saniert und tätigte schon seit Mitte der achtziger Jahre einen Atelierverkauf einmal in der Woche.
„Jetzt ist Westen“, hatte Mona zu ihr gesagt. „Jetzt musst du dein Atelier täglich öffnen, so geht Marktwirtschaft.“
Loretta wusste es, hielt aber gern an alten Gewohnheiten fest.
„Ihr habt genug Zeit“, sagte sie. „Macht ihr doch den Verkauf. Ich…Ich habe keine Zeit dafür.“
Wir besprachen die Idee und ich erinnerte mich daran, wie wir im Spätsommer Neunundachtzig bei Loretta auf dem Hof unter der Pergola die flüchtenden DDR-Bürger mit Sekt gefeiert hatten. Die Wohnungsknappheit würde ein Ende haben. Die Vision einer leeren Stadt, nur wir würden hier bleiben mit all den Außenseitern, Randfiguren, verbotenen Künstlern, unsere Pläne verwirklichen, Kneipen und Läden eröffnen. Wo man hinkam, lautete die Frage, soll man die Gelegenheit nutzen und über Ungarn in den Westen fliehen, bevor es zu spät ist?
„Ich will nicht in den Westen“, hatte Mona gesagt. „Ich will, dass der Westen zu mir kommt.“
Und das tat er dann ja.
Loretta sagte: „Bitteschön. Verkauft meine Spiegel und Glasbilder und eure Sachen auch.“
Nach und nach kamen die anderen vorbei. Die Schmuckgestalterin, der Trödelhändler, einige Grafiker und Maler. Das Geschäft quoll über. Wir waren bald gezwungen, eine strenge Qualitätsauswahl vorzunehmen. Aber nur im ersten Jahr lief es gut, als wir unsere besten Produkte zu Schleuderpreisen anboten. Mona hörte auf zu malen, ich fertigte keine Keramik mehr. Wir hatten einen Laden.
Angezogen von der Attraktion holländischer Backsteinhäuser im historischen Stadtkern nutzten die Touristen zunehmend unser Geschäft, um Informationen über die Entstehung des Viertels zu erlangen oder Statements über den verkommenen Osten abzugeben. Nachdem wir anfangs beleidigt und bockig jede Auskunft verweigert hatten, natürlich auch deshalb, weil uns über die Geschichte des Viertels jegliches Wissen fehlte, verließ Mona bald das gemeinsame Unterfangen und widmete sich wieder ausschließlich der Malerei. Ich eignete mir die notwendigsten Kenntnisse über das Holländische Viertel an. Trotzdem verwechselte ich lange Zeit den Soldatenkönig mit Friedrich dem Großen und sagte schlicht: "Dem König haben die holländischen Handwerker imponiert, er wollte sie nach Potsdam locken."
Wenn ich schlecht gelaunt war, wies ich wortlos auf den gegenüberliegenden Giebel, an welchem die Jahreszahl 1742 prangte.
Die meiste Zeit jedoch saß ich am Schreibtisch und liebte über alles den Blick, den ich durch das Fenster auf den tiefblauen Himmel über den roten Häusern hatte.
Anfangs stand der Schreibtisch anders, quer in der Mitte des Ladens am schmalen Wandstück zwischen den Fenstern, so dass jeder Kunde, der hereinkam, zunächst in das erwartungsvolle Gesicht der Inhaberin blickte. Unangenehm für beide Seiten, fand ich. Deshalb stellte ich den Tisch vor das hintere Fenster, saß fortan seitlich zur Kundschaft und hatte außerdem den Vorteil, die Straße beobachten zu können.
Das undurchdringliche Blau des Himmels über den roten Dächern faszinierte mich. Das Blau war absolut. Ich erdete mich an diesem Schreibtisch, und niemand konnte mir weismachen, woanders sei es schöner. Nun war es jedoch vorbei mit dem schattigen Platz.
Ich stand auf, als hätte ich inzwischen