Korridorium – fraktale Romanzen. Cory d'Or. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Cory d'Or
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783847660910
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streifen umher und begutachten unser Angebot, und dann irgendwann macht es Klick, und eine der Pflanzen hat ein neues Heim und einen neuen Besitzer gefunden. Ob es irgendetwas Chemisches ist, Pheromone vielleicht, oder ob es eine Form von Magie ist, habe ich noch nicht herausfinden können. Zwar glauben die Heimgärtner und Laubenpieper, sie wären es, die hier die Wahl treffen, aber in Wahrheit haben sie keinerlei Kontrolle über ihren Einkauf und stehen ganz im Bann der Blumen, Stauden und Ziergehölze, die sich ihnen aufdrängen. Wobei diese durchaus wählerisch sind. Und, ja, es gibt auch Kunden, die absolut unempfänglich sind für die Signale der Botanik und einfach einpacken, was auf ihrem Einkaufszettel steht. Doch die sind selten.

      Ein fetter Mann, der seine Resthaare auf die Glatze gekämmt hat, schiebt seinen Einkaufswagen zwischen den Paletten durch. Er lässt seinen Blick schweifen und rollt gemächlich am Blauglockenbaum vorbei. Im Wagen hat er einen Zimmerspringbrunnen mit Drachenbaum und Zwergpfeffer. Ich als Pflanze würde mich jetzt klein und unscheinbar machen und ihn vorbeifahren lassen – wer ein weißes T-Shirt anzieht, das sich über den Bauch spannt und zahlreiche Flecken zweifelhafter Herkunft aufweist, wird auch seine Pflanzen nicht richtig pflegen.

      Er hält an und nimmt den Blauglockenbaum in Augenschein. Ich beobachte ihn zwischen den Ästen der Harlekinweide hindurch. Was will er mit unserer Paulownia? Sie sieht ein wenig kümmerlich aus, ein paar der Blätter sind bräunlich verfärbt, als leide sie unter Pilzbefall. Niemand interessiert sich für sie. Schon seit Monaten steht sie unbeachtet auf der Palette neben dem Goldliguster: ein echter Ladenhüter. Aber der Dicke packt sie doch tatsächlich in seinen Wagen. Ich eile sofort hin.

      »Kennen Sie sich mit der Pflege einer Paulownia aus? Sie ist sehr kapriziös.« Das soll ihn abschrecken. Doch der Kerl brummt nur und schiebt seinen Wagen weiter. Ich folge ihm.

      »Oh, sehen Sie nur. Sie ist krank. Warten Sie, ich checke mal in unserem Bestand, ob ich nicht ein anderes Exemplar für Sie habe.« Wir haben keines, das muss ich nicht erst checken, aber ich kann ihm bestimmt einen Trompetenbaum unterjubeln, die werden oft mit der Blauglocke verwechselt. Doch der fette Glatzkopf schüttelt unwirsch den Kopf und reißt mir den Plastiktopf wieder aus den Händen, setzt ihn neben seinem Zimmerspringbrunnen, wirft Paulownia einen verliebten Blick zu und lässt mich einfach stehen.

      »Entschuldigen Sie«, rufe ich ihm hinterher, »dieser Zierbaum ist bereits verkauft.« »Er gehört mir!«, will ich anfügen, doch ich sehe, dass die Tochter des Chefs auf mich aufmerksam geworden ist. Sie steht mit dem Wasserschlauch an den Silberweiden.

      Der Übergewichtige dreht sich zu mir um. Ich habe nur Augen für meine Paulownia. Sie schüttelt ihre Blätter und reckt sich zu ihrer ganzen Größe auf. Sie will mich verlassen. Sie will sich diesem Dicken in seinem schmierigen T-Shirt an den Hals werfen, will die Seine werden und alles in den Dreck treten, was sich so behutsam zwischen uns beiden entwickelt hatte!

      Die Tochter des Chefs tritt zu dem Dickwanst: »Es ist alles in Ordnung mit dem Bäumchen.« Dann dreht sie sich zu mir um. Sie hatte schon immer einen Kieker auf mich: »Ich glaube, unsere Orchideen müssen mal wieder ein wenig eingenebelt werden.« Doch ich habe bereits die große Gartenschere in der Hand. Von diesem Fettsack lass ich mir meine Paulownia nicht wegnehmen!

      Ich stürze mich wütend auf ihn. Nach einem kurzen Handgemenge und ein paar schrillen Hilfeschreien der Chefstochter kann ich den Mann zur Seite stoßen und stehe dem treulosen Zierbaum gegenüber. Mit meinen Händen an den Griffen öffne ich die Schere. Paulownia scheint zurückzuweichen, ihre Zweige zittern, und sie scheint mich anzuflehen, es nicht zum Äußersten kommen zu lassen. Sie will alles wiedergutmachen, mir ein Leben lang treu bleiben, mir zu Diensten sein, mir jeden Wunsch von den Lippen ablesen! Pah! Sie kann mich nicht mehr täuschen …

      Später habe ich erfahren, dass der Blitz, der in diesem Moment auf mich herniederfuhr und mich zu Boden schleuderte, eine der Edelstahlgießkannen für 94,99 Euro war, die mir die Tochter des Chefs über den Schädel zog. Die Aktion brachte mir neben einer schmerzenden Beule und einer leichten Gehirnerschütterung natürlich gleich auch die fristlose Kündigung ein. Meine Paulownia war fort, verkauft, als ich wieder zu mir kam. Der Dicke hatte sie in seinen Kombi geladen und war davongefahren. Wegen des unangenehmen Vorfalls haben sie ihm den Baum geschenkt und mir den Kaufpreis von meinem Praktikantengehalt abgezogen.

      Also gehört sie jetzt ganz offiziell mir, oder? Ich habe sie schließlich bezahlt. Und ich werde sie mir holen! Janine von der Kasse, mit der ich hin und wieder heimlich hinterm Treibhaus an den Kompostcontainern geraucht hatte, hat mir den Namen und die Adresse des fetten Kunden gegeben. Der Chef hatte beides notieren lassen, für den Fall, dass es ein Nachspiel gibt.

      Oh ja. Es wird ein Nachspiel geben! Diesmal habe ich die Motorsäge dabei …

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       7.7.12

      Ich betrete den Korridor, einen von zweien, die sich – wie mir Edarina per SMS versichert hat, bevor sie den zweiten, den Schwesterkorridor betrat – irgendwo in der Unendlichkeit treffen. Schnellen Schrittes laufe ich voran. Nicht, dass meine Rose für sie vorher welkt und ihre Blätter verliert!

      304/398

       9.9.12

      Ich betrete den Korridor im Namen der Wissenschaft – als Blau-8, also als jemand von der Teilnehmergruppe mit blauen Armbinden. Meine trägt die Nummer acht.

      Die Forscher, die die Untersuchung durchführen, haben eine Fabrikhalle gemietet, durch die sich ein Korridor schlängelt, der für jeden einzelnen Durchgang der Untersuchung verändert wird. An beiden Enden des Korridors: eine Art Aufenthaltsbereich. Da stehen ein paar Stühle, zu Mittag soll hier ein kleines Buffet für uns aufgebaut werden, und an einer Seite kann man durch eine Stahltür ins Freie treten und eine rauchen, während umgebaut wird und wir alle auf unseren nächsten Auftritt warten. Oder Eintritt, wenn man das so sehen möchte.

      Jeder von uns hat ein Handy – Teilnahmevoraussetzung. Als ich die Ausschreibung für die Untersuchung las, war ich ein wenig darüber verwundert, aber inzwischen macht es Sinn für mich: Wir bekommen individuelle Anweisungen per SMS.

      Aktuell heißt es für mich: »Sie wollen möglichst schnell Zimmer Nr. 6007 finden, klopfen dort an und warten davor.« Ein Countdown-Balken über dem Durchgang zum Korridor bereitet uns Probanden auf den Einsatz vor. Der Bildschirm blitzt auf, es ist soweit. Ich betrete den Korridor, der die Fabrikhalle durchzieht, und suche nach Zimmer Nr. 6007. Aber nicht nur das. Ich halte auch nach Orange-17 Ausschau, einer jungen Frau aus dem anderen Team, die alle orangefarbene Armbinden tragen und uns bei jedem Durchgang irgendwann entgegenkommen.

      Verschiedene Lichtschranken messen unseren »Durchsatz«, Kameras verfolgen unsere Bewegungen durch den Korridor aus der Vogelperspektive: All dies dient der Wissenschaft vom Korridor. Von Zugängen zum U-Bahnhof bis zum Flur vor dem Speisesaal eines Hotelkomplexes – Staus, Ballungen und Zusammenstöße sollen vermieden, ein möglichst effektiver Durchfluss soll gewährleistet werden. Zumindest nehme ich das an. Die letzte Untersuchung, an dem einige der hier beteiligten Forscher und Forscherinnen mitgeschrieben haben, hieß: »Experimental study of pedestrian counterflow in a corridor«.

      Diesmal knickt der Korridor mehrfach ab. Menschen eilen oder schlendern in meine Richtung, einige kommen mir entgegen. Orange-17 ist nicht dabei. Wie immer gibt es einige Blindtüren im Korridor. Sie sind nummeriert. Eben bin ich an Nr. 6005 vorbeigekommen. Jetzt ist auf meiner Linken die 6009. Habe ich die 6007 verpasst? Wie peinlich. Ich drehe um, womit ich mir von den mir folgenden Korridoristen einige ärgerliche Blicke einhandle. Mit einem von ihnen vollführe ich unabsichtlich dieses tänzerische Hin und Her, das man manchmal auf Bürgersteigen beobachten kann, wenn zwei aneinander vorbeiwollen und jeweils zur selben Seite ausweichen.

      So ein Mist: Ich finde die 6007 nicht! Ein kurzer Hupton schallt durch die Halle. Ende des Durchgangs. Kurz überlege ich, ob ich nicht wieder zurückgehen soll. Eigentlich lautet die Anweisung an uns: für die nächste Umbaupause immer auf die gegenüberliegende Seite! Würde ich zurückgehen, wäre ich da, wo auch Orange-17