Der erste Anblick der Insel Grenada war ein echter Augenöffner. Ein lückenlos grün bepelztes Bergmassiv im fahlen Morgenlicht, von dichten Wolken verhangen. Endlich das hinreichende Ausmaß von Vertikalität, ohne die man eine Insel nicht wirklich schön finden kann.
Etwa 100.000 Menschen lebten auf der 350 qkm großen Insel, davon waren 80 % Schwarze und Mulatten, 13 % waren Inder und nur 7 % Weiße. Was zu der Frage führte, wo denn die Inder herkamen. Antwort: Die Inder kamen als Kontraktarbeiter auf der Grundlage extrem harter Arbeitsverträge während des 19. Jahrhunderts auf die karibischen Inseln, weil die ehemaligen Sklaven nach ihrer Freilassung aus der Sklaverei keine Lust mehr gehabt hatten, weiter zu rackern und sich auf reine Bedarfsdeckungswirtschaft beschränkten. Da waren die Inder (und andernorts die Chinesen und Japaner) ganz anders. Sie kamen, blieben, vermehrten sich und beherrschen heute weite Teile der karibischen Wirtschaft. In Südafrika, in Kenia und Tansania und auf Fidschi war die Entwicklung übrigens ganz ähnlich verlaufen.
Unsere Führerin für die „Typisch Grenada“ Tour hieß Connie. Sie war beleibt, aber beweglich, hatte rote Haare und ein dominantes Auftreten. Seit 23 Jahren lebte sie schon auf Grenada und hatte in dieser Zeit nach eigener Aussage „jede Menge Scheiße“ inklusive Arbeitslosigkeit und Scheidung erlebt. Sie wollte aber auf keinen Fall wieder nach Deutschland zurück, weil in Grenada „jeder für den anderen da“ sei, und die Gemeinschaft jedermann auffinge. So dezidiert vorgetragen, klang das etwas schräg, und ich hätte gerne die ganze Geschichte gehört, woran natürlich nicht zu denken war. Immerhin war Connie extrem kompetent und wusste über Land und Leute mehr zu erzählen als alle bisherigen Reiseführer zusammengenommen. Während wir durch die Inselhauptstadt St. George kurvten, begann sie mit Details zur Inselgeschichte, wobei ich aber nicht mehr sicher sagen kann, was sie uns erzählte, und was ich erst im nachher gelesen habe. Entdeckt wurde Grenada bereits 1498 auf der dritten Reise von Christoph Kolumbus. Die Spanier hatten die Insel aber links liegengelassen, weil auf ihr nicht viel zu holen gewesen war. 1609 unternahmen die Engländer einen ersten Ansiedlungsversuch, der am Widerstand der Kariben scheiterte. Ihnen folgten 1650 die Franzosen, die gründlicher zu Werke gingen und mit den Kariben brutal aufräumten. Die letzten vierzig Kariben sollen sich am Ende der Kämpfe von einem Felsen im Norden der Insel in den Tod gestürzt haben. Nach der Ausrottung der Indianer wurden afrikanische Sklaven eingeführt, mit deren Hilfe Tabak- und Zuckerrohrplantagen entstanden. 1763 und 1783 besetzten die Briten die Insel und sicherten ihre Herrschaft mit einer ganzen Batterie von Küstenfestungen, die durch unterirdische Gänge miteinander verbunden waren.
Eine solche Festung, das Fort Frederic hoch über St. George, war unser erster Anlaufpunkt. Eine einheimische Band empfing uns am Eingang der Festung mit karibischer Musik und wollte für jeden Schnappschuss Bargeld sehen. Ich notierte: Das Recht am eigenen Bild gehört in der Karibik zu den allgemeinen Menschenrechten. Selbst wenn sie Geld für ein Bild erhielten, blickten die Mitglieder der Band griesgrämig drein. Den ganzen Tag lang immer die gleichen Stücke für Fremde zu spielen, die meist achtlos an ihnen vorüber gingen, war ganz sicher kein Vergnügen. Von den Zinnen des Forts aus überblickte man den gesamten Inselsüden mit der Inselhauptstadt St. George tief unter uns und mit der majestätischen AIDAdiva am Kai. In malerischer Schräge stürzten dicht bewachsene Berge ins Meer.
Anschließend fuhren wir ins Inselinnere, immer tiefer hinein in eine üppige Vegetation, die von allen Seiten über die Ränder der Straßen wucherte. Überall standen Holzhäuser auf Stelzen am Hang, umgeben von Ruinen, die seit dem letzten Hurrikan nicht wieder aufgebaut worden waren. Die Siedlungen, die wir passierten, besaßen die Form von Bandwurmdörfern, ihre herausragenden Merkmale waren bunt ausstaffierte Jugendliche, die im Rastafari-Look am Straßenrand saßen und den durchfahrenden Bussen den Stinkefinger zeigten. Bei aller Warmherzigkeit seien die Grenadiner allerdings auch ein robuster Menschenschlag, der sich nichts gefallen ließe, erklärte Connie. Vielleicht war die Insel deswegen bald nach ihrer Unabhängigkeit mit den USA in Konflikt geraten. Um die Machtergreifung einer kommunistischen Minderheit in Grenada zu verhindern, hatte Präsident Reagan 1983 die Militärintervention „Urgent Fury“ befohlen. Die herrschende Linksclique verschwand in amerikanischen Gefängnissen, und die Demokratie in Grenada wurde wieder hergestellt. Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute.
Sonderlich besser geworden seien die Verhältnisse nach der US Intervention aber nicht, meinte Connie Das Land sei chronisch unterfinanziert, weil 90 % aller Waren eingeführt werden müssten. Zur Deckung der dafür notwendigen Dollarrechnungen reiche der Export von Muskat, Bananen und Nelken einfach nicht aus. „Jedermann in Grenada ist pleite“, behauptete Connie, der Staat, die Stadt, die Privatleute und auch die Firma, die sie beschäftige, denn sie selbst warte noch immer auf ihren Lohn vom letzten Monat. Die einzigen Lichtblicke in diesem Desaster bildeten die Care-Pakete und Überweisungen der der 150.000 Auslandsgrenadiner vor allem aus den Vereinigten Staaten. Auch sie selbst freue sich über die Pakete, die ihre deutschen Verwandten nach Grenada schickten, weil sie diese Sendungen nicht versteuern müsse und auf den Märkten verkaufen könne. Normale Einfuhrzölle dagegen seien gigantisch und beliefen sich für ein importiertes Auto zwischen 90 und 150 % des Wagenwertes. Der Tourismus sei zwar im Kommen, befände sich aber noch in den Kinderschuhen, denn es existierten gerade mal 5000 Betten auf der ganzen Insel. Vielleicht, so Connie, läge das auch daran, dass Land knapp und teuer sei. Gräber wurden deswegen nur auf felsigem Grund ausgehoben, und wenn ein Hinterbliebener stürbe, werfe man seine sterblichen Überreste in das Grab des Verwandten einfach obendrauf. Jedenfalls mache man das, bis der Sarg voll sei.
In knapp sechshundert Höhenmetern erreichten wir den Grand Etang Nationalpark. Mitten im Nationalpark lag ein kugelrunder Kratersee im immergrünen Regenwald. Der See war klein und trübe, die Regenwolken reichten uns bis zum Scheitel, so dass das Landschaftsbild ein wenig an einen Kratersee in der Hocheifel erinnerte. Im Visitor Center des Grand Etang Nationalparks spielte wieder eine einheimische Musikergruppe Kalypso-Musik, trübsinnig auch sie. Besser gelaunt waren die Händler am Parkeingang, die Gewürzmischungen verkauften, von denen wir gleich drei als Geschenke erwarben. Leider erwiesen sich die meisten Gewürze, die wir zuhause auspackten, als total vergammelt.
„Spice Basket“ war der Name eines Kulturzentrums, in dem wir zur Begrüßung erst einmal eine Runde Punsch erhielten, was die Stimmung wieder enorm auflockerte. Ich notierte: Ein wenig Alkohol, auf einem Ausflug ausgeschenkt, macht die Gäste heiter und dankbar. Nach dem Punsch nahmen wir in einer Halle Platz und folgten einer Tanzvorführung. Prachtvolle schwarze Schönheiten fegten zu rhythmischer Trommelbegleitung im malerischen Karibenoutfit über das Parkett. Die meisten Frauen waren jung und knackig, es waren aber auch einige ältere Damen dabei, die genauso agil, aber erheblich voluminöser waren. Dass Frauen in fortgeschrittenem Alter dicker werden, ist natürlich nichts Besonderes, aber das Ausmaß der femininen Altersverdickung in der Karibik war doch verblüffend, was ich an dieser Stelle nur rein beschreibend und ohne jede Wertung anmerken möchte. Die Show endete mit einem Limbo-Tanz, dessen Herausforderung darin bestand, unter einem sehr niedrig gehaltenen Stock schlangengleich hindurchzutanzen. Peinlich, als sich auch ein Tourist am Limbo versuchte und sich die ganze Hüftsteifheit des westlichen Menschen vor aller Augen enthüllte.
Wochenmarkt in Kingston – ST. VINCENT
Die Insel St. Vincent bot einen ähnlichen Anblick wie Grenada. Eine gebirgige Insel mit einem dunklen Rot aus Wolken und Licht über ihren Höhen. Ein Anblick, der Karibikstimmung aufkommen ließ, auch wenn die Wenigsten den Namen St. Vincent vor dieser Reise überhaupt schon einmal gehört hatten. Wie dem alltäglichen Infozettel zu entnehmen war, umfasste die Insel eine Fläche von 346 qkm, auf denen 130.000 Einwohner lebten. Die Hauptstadt Kingston, nicht zu verwechseln mit dem berühmteren Kingston Town auf Jamaika, lag am Fuße dicht bewachsener, südseeartiger Berge, an denen sich bunte Stelzenhäuser die Hänge emporzogen.
Wir verzichteten auf eine Inseltour und beschlossen, Kingston auf eigene Faust zu erkunden. Wir kamen gerade richtig, denn die ganze Stadt stand im Zeichen des samstäglichen Wochenmarktes. Die Auslagen quollen über vor lauter Obst, Gemüse, Fleisch und Fisch in jedem nur denkbaren Stadium des Fliegenbefalls. Bewacht wurden die Waren von sehr stattlichen, fast voluminösen Frauen in knallroten oder knallgelben Gewändern. Immer