Du, ich habe Dich überm Erzählen nicht vergessen.
Ich habe von den Liebschels für Dich erzählt, wie ich jede Geschichte für Dich aufgeschrieben habe. Wenn ich Dir nur noch einmal so wie damals gegenüberstehen und in Deinen Augen eine Nachricht an mich lesen könnte. Ich hätte weiter zu den Liebschels gehen sollen. Ich befand mich bei ihnen in einer Lehre, die mir Spaß bereitete. Aber ich habe sie abgebrochen. Warum? Fehlende Zeit. Zunehmende Verantwortung. Erfolge und Krisen. Erdrückende Weltprobleme. Man wird älter. Enttäuschungen. Am Haus muss noch dies und das getan werden. Es fehlt noch an diesem und jenem. Ich weiß nicht, ob das die Ursachen für mein Wegbleiben von den Liebschels sind. Ich weiß nur, dass es dumm, ja gefährlich war, aus ihrer Runde wegzubleiben. Heute erkenne ich, an den Sonntagvormittagen hast Du unter den Leuten gesessen, einmal neben Eduard, dem Bürgermeister, ein anderes Mal zwischen dem plappernden Guevara und dem schweigsamen Pedro und dann wieder neben Wassilis Frau Tanjetschka und der Bäuerin Alma. Jedes Mal warst Du in meiner Nähe, und ich war blind. Heute weiß ich, eines Morgens hätte ich Dich bemerkt. Aber ich habe mich wegtreiben lassen.
Kurt Liebschel starb in diesem Frühjahr an einem Tag, der mit seinem Licht und seiner Wärme den Sommer ahnen ließ. Im Winter war er zur jährlichen Abmagerungskur gewesen, hatte fünfzig Pfund verloren und zwei Monate darauf sechzig Pfund zugelegt. Eine leichte Grippe hatte ihn erwischt. Am Tag vor seinem Tod war er beim Wellfleischessen des Notschlächters der Wellfleischkönig geworden. Es hatte ihm geschmeckt, er hatte ein paar Schnäpse zur Verdauung getrunken, sie hatten über den Bau der Kanalisation in D. gesprochen. Hanna hatte ihn gegen zweiundzwanzig Uhr mit dem Auto nach Hause gebracht. Als er am nächsten Nachmittag von der Arbeit kam, hatte er sich für "ein Stündchen aufs Ohr gelegt". Sie hatten ihn schlafen lassen, länger als die gewohnten zwanzig Minuten. Das Telefon hatte wie üblich mehrmals geläutet.
Zum Abendbrot trug Hanna Speckkuchen auf, im ganzen Haus duftete es nach Kurt Liebschels Lieblingsessen; er aber schlief. Gegen zwanzig Uhr riefen sie ihn, sie kitzelten und rüttelten ihn. Kurt Liebschel lag, mit Turnhose und Turnhemd bekleidet, auf dem Sofa, lächelte und rührte sich nicht.
Sechs Männer trugen schwer am Sarg. Der kleine Friedhof von D. war mit Menschen überfüllt. Noch nie habe ich bei einer Beerdigung so viele heitere Gesichter gesehen. Überhaupt war manches ungewöhnlich auf Nanga Parbats Begräbnis. Kein Trauerredner pries die Großartigkeit des Dahingegangenen. Stattdessen schallten aus Katastrophes Kassettenrekorder Wiener Lieder, von Paul Hörbiger gesungen; 0 du lieber Augustin, Drunt' in der Lobau, I hab die schönen Maderln net erfunden und das Fiakerlied.
Und kummts omal zum Abfahrn
und wer i dann begrabn,
so spannts mer meine Rappen ein
und führts mi übern Grabn.
Dann lasstses aber laufen!
führts mi im Trab hinaus!
i bitt mers aus, nur nit im Schritt!
nehmts meinetwegen die Kreizung mit!
Am Grab, auf einem langen Tisch, standen Bier- und Schnapsflaschen, Krüge und Gläser, lagen auf Küchenbrettern gebratene Fleischstücke und aufgeschnittenes Weißbrot. "Langt kräftig zu", sagte Hanna. Die Leute aßen und tranken, wir mussten lachen, als der ungewöhnlich breite Sarg nicht in das schmale Erdloch versinken wollte. Einer rief: "Da muss man dran drehen. Stimmt doch, Nanga Parbat!" Ein paar Männer legten die schwarzen Anzugjacken ab, krempelten sich die Ärmel der weißen Hemden hoch und schaufelten das Grab breiter.
... Sein Blut war so luftig und so leicht wie der Wind ...
Den ganzen Tag über kamen und gingen Leute, und es war wie an den Sonntagvormittagen bei den Liebschels: Es wurden Geschäfte abgeschlossen und von Gott und der Welt geredet.
Das alles war schon erstaunlich. Aber am stärksten beeindruckte mich Hanna Liebschels Verhalten, nicht nur bei der Beerdigung, auch in der folgenden Zeit. Ich hatte angenommen, ohne Kurt fehlte ihr der Halt, er sei ihr das Rückgrat gewesen. Ich meinte, ihr Lachen sei eigentlich sein Lachen. Ich habe mich gründlich getäuscht. Hanna Liebschel ist durch Nanga Parbats Tod nicht zusammengebrochen. Ihr Gesicht war bleich am Tag der Beerdigung, mit dunklen Rändern unter den Augen; aber sie trug ein buntes Kleid, bewegte sich unter den Leuten und sprach mit ihnen über alles Mögliche. Ihre Augen blickten traurig, aber nicht beunruhigt.
Am darauffolgenden Sonntagvormittag besuchte ich sie. In Liebschels Wohnzimmer herrschte nicht mehr das bunte Treiben, wie man es sich von einem orientalischen Markt vorstellt. Ein paar Getreue waren gekommen; aber der rechte Schwung wollte sich weder in der Geschäftstätigkeit noch im Gespräch einstellen. Sie gingen bald wieder, irgendeinen Vorwand als Entschuldigung vorbringend. "Geht schon in Ordnung", sagte Hanna. "Kommt, wenn es euch danach ist. Ihr wisst, wie Kurt darüber gedacht hat."
Was war eigentlich passiert? Weißt Du, wovor ich die größte Angst habe: vor der Erschlaffung, der Gleichgültigkeit.
Und Hanna geht an die Arbeit. Beim Ausmisten der Kaninchenställe singt sie auf weanerisch, dem das Sächsische und vor allem ein ganz eigener Ton die Melancholie nimmt: "Schau der den Blitz dort am Himmel an, ihm gehört der Augenblick. Um zu verlöschn, schlogt der wo ein, groad a so machts das Glück." Wenn ich Hanna begegne, schäme ich mich meines Verlustes an Heiterkeit, und ich sehne mich nach den Sonntagvormittagen bei Liebschels, als könnte ich Dich nur dort wiederfinden.
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