Mein Leben begann 1918 in Weimar. Paul Kübler. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Paul Kübler
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783847684565
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wurde verbunden und nach Jena in die Uni-Klinik gebracht. Der Daumen wurde amputiert und die ganze Hand wieder gerichtet. Es blieb eine Hand mit vielen Narben.

      Vom Jugendamt Weimar war eine evangelische Schwester zur Betreuung der Kinder, die in »Pflege« waren, eingesetzt. Sie kam einmal im Jahr, um nach dem Rechten zu sehen. Im Sommer

      1930 traf ich diese Schwester auf der Dorfstraße. Wir unterhielten uns über meinen Aufenthalt. Auf einmal sagte die Schwester zu mir: »Stell Dich doch mal gerade hin!« Ich meinte: »Ich stehe doch gerade.« Da griff sie meine beiden Oberarme und bog mich so, dass sie mich gerade sah. Ich hatte Schmerzen im Rücken und sagte: »AU«

      Wochen später musste ich zum Kreisarzt nach Weimar zur Untersuchung. Er stellte den Beginn einer Rückgratkrümmung fest und verordnete orthopädische Gymnastik. In Weimar in der Amalienstraße gab es dafür ein Institut. Bei Frau Wilke, einer älteren Dame, schlank und sehr nett, stellte ich mich vor und die Schwester vom Jugendamt meldete mich offiziell an. Ich bekam meinen Übungsplan und musste zweimal die Woche, dienstags und donnerstags, zum Üben kommen. Wir waren in der Gruppe acht bis zehn Schüler. Das Programm war abwechslungsreich. Wir machten Bodengymnastik, Turnen an der Sprossenwand - Nackenschaukel. Jedes Mal Rückenmassage und andere Übungen. Es gab natürlich Ärger, denn ich fehlte zwei Nachmittage in der Woche bei der Arbeit. Insgesamt bin ich drei Jahre in dieses Institut gegangen. Die Kosten übernahm das Jugendamt. Ich musste von Stedten nach Ramsta laufen, denn der Bus kam von Kölleda und in Ramsta konnte ich zusteigen. Für die Hin und Rückfahrt bezahlte ich 80 Pfennige. Am Hauptbahnhof, vor dem Hotel Kaiserin Augusta, war die Bushaltestelle. 15 Uhr begann meine Übungsstunde, gegen 14.30 Uhr war ich in Weimar, so dass ich bequem durch die Stadt laufen konnte. Zurück fuhr der Bus kurz nach 17 Uhr. Es war natürlich für mich ein schönes Gefühl zwei Nachmittage in der Woche keine Feldarbeit leisten zu müssen. Das Vieh war getränkt und gefüttert. Ich konnte mich gleich an mein kleines Tischchen setzen. Ja, wir waren sechs Personen in der Familie. Die Wohnküche war nicht sehr groß. Der Tisch stand an der Wand. So konnten nur drei Seiten besetzt werden. An der Stirnseite saß Herr Schmidt, die Längsseite besetzten Frau Schmidt und Frau Weber, die Oma, meine eigentliche Pflegetante. An der anderen schmalen Seite saßen die Kinder Anni und später noch Herta. An der Tür rechts war eine kleine Ecke mit einem Tischchen, so 50 x 30 Zentimeter. Darüber hing die Garderobe und an diesem Tisch war mein Platz. Die große Petroleumlampe stand natürlich auf dem großen Tisch. Wenn ich noch etwas haben wollte, habe ich immer gewartet, bis ich gefragt wurde. Ich habe mich in den acht Jahren meines Aufenthaltes in Stedten nie zu Hause gefühlt. Ich war immer ein Fremder. Ich war ein Kind, wurde aber nie so behandelt. Kein liebes Wort, kein Streicheln oder andere Liebkosungen. Ich wurde nach dem Kinderheim in Stadtroda nicht einmal in den Arm genommen und gedrückt.

      Meine Arbeit war selbstverständlich. Statt Lob wurde ich oft »fauler Hund« geschimpft. Das färbte sich sogar auf Anni ab. Sie schimpfte mich »Ziehwanst«. Das ließ ich mir nicht gefallen und legte sie über das Knie und versohlte ihr den Hintern, sie rannte zu ihrem Opa und schrie: »Paul hat mich geschlagen!«. Der sagte nur: »Na, da hast du ihn bestimmt sehr geärgert.«

      Das Gefühl fremd zu sein, drückte sich auch im Verhalten der jungen Leute Schmidt mir gegenüber aus. Wenn Obst in die Stadt gebracht wurde, brachten sie den Kindern eine Kleinigkeit mit. Ich habe nie etwas bekommen. Wenn ich gerade dazu kam, sagte Tessi: »Na, dann gebt nur dem Paul ab, sonst kriegt der ja ein Kälbchen.« Ich nahm es nur mit Widerwillen an und ging schnell wieder in die Scheune. Das war besonders in den Monaten, wo keine Feldarbeit gemacht wurde, mein zweites Zuhause. Wenn es kalt war ging ich in den Stall zwischen die Kühe.

      Meine Fahrten nach Weimar hatten auch sonst noch etwas Gutes. Unser Lehrer war froh, dass ich die Schreibwaren mitbringen konnte, denn er verkaufte an die Schüler u.a. Schreibhefte. Für mich waren die zwei Nachmittage in der Woche wie ein Kurzurlaub. Die Fahrt mit dem Bus war ein schönes Erlebnis. Dann der Bummel durch die Stadt war auch immer schön. Da konnte ich in die Schaufenster sehen. Fasziniert war ich immer an der Fischhalle am Graben, so hieß die Straße. Da war ein Becken wie ein Aquarium, in dem die Karpfen herum schwammen. Auch konnte ich meinen Bruder Alois besuchen, der beim Landschafts- und Friedhofsgärtner lernte. Meine Schwester war auch in Weimar in einem Blumengeschäft am Theaterplatz. So hatte ich immer Abwechslung und manchmal auch Überraschungen.

      Meine Mutter besuchte mich in Stedten. Sie schlug mir vor bei meinem nächsten Gymnastiknachmittag meine Großeltern zu besuchen. Ich hatte sie ja schon über sieben Jahre nicht gesehen. Sie holte mich vom Bus ab und wir gingen in das Institut und baten die Leiterin Frau Wilke mir für diesen Tag frei zu geben. Sie hat sofort zugestimmt und wir liefen nach Oberweimar. Meine Großeltern wohnten in der Merketalstraße. Das war so eine Seitenstraße, die etwas anstrengend war. Meine Großmutter war eine kleine gutmütige Frau, immer ein Lächeln auf dem Lippen und trotz ihres Alters flink wie ein Wiesel. Mein Großvater, ein Riese im Verhältnis zu seiner Frau, von Beruf Bierkutscher, jetzt aber Rentner. Er rauchte sein langes Pfeifchen und wenn die nicht schmeckte, war er krank. Mit 75 Jahren fuhr er noch mit dem Handwagen in den Wald, ca. zehn Kilometer weit und holte Holz. Nicht weit vom Hause hatten beide einen kleinen Garten.

      Ich war natürlich sehr schüchtern. Zu meiner Großmutter sagte ich »Sie«. Der Nachmittag verging mit Fragen und Antworten. Langsam fühlte ich mich heimisch. Diesen Besuch wiederholte ich dann öfter. Auch mit den anderen Gymnastikteilnehmern verstand ich mich gut. Ich habe nie mit jemanden Streit gehabt. Ein Mädchen namens Elfriede kümmerte sich sehr um mich. Sie ging mit mir oft nach der Turnstunde den Weg Richtung Bahnhof, weil sie in dieser Gegend wohnte. Ich staunte über ihre Selbstständigkeit und staunte, wie sie im Kaufhaus »Hermann Dietz« den Fahrstuhl in Anspruch nahm. Sie kannte sich eben in der Stadt aus. Ich hatte Geburtstag und musste wieder nach Weimar. Mein Geburtstag wurde ja in Stedten nie gefeiert und so war mir das ganz recht. An diesem Tag führte Elfriede mich direkt in das Kaufhaus, in die Süßwarenecke. Sie kaufte

      Schokolade und Pralinen. Dann gab sie alles mir und sagte:

      »Ich habe meiner Mutter von Dir erzählt und ihr auch gesagt, dass Du heute Geburtstag hast. Sie gab mir Geld damit ich Dir etwas schenken kann.« Wann habe ich jemals was geschenkt bekommen? Ich weiß es nicht. Meine Mutter hat mir einmal von ihrem wenigen Verdienst fünf Reichsmark geschickt. Davon habe ich nichts gesehen. So nebenbei sagte mein Pflegeonkel Karl: »Paul, deine Mutter hatte fünf Mark geschickt. Dafür habe ich dir die Holzpantoffeln gekauft, für den Winter brauchst du ein paar Pantoffeln. Für Schreibzeug habe ich dir auch Geld gegeben und jetzt ist noch ein Groschen übrig, dafür kannst du dir die Haare schneiden lassen.« Er hat nicht gesehen, dass ich mit Tränen in den Augen sein Zimmer verlassen habe. Für mich war es immer eine Freude, wenn im Omnibus Herr Fischer, der Besitzer, kassierte. Wenn ich ihm 80 Pfennige gab, gab er mir die Fahrkarte und zehn Pfennige dazu. Da konnte ich mir auch mal eine Orange oder eine Banane kaufen. Wenn ich Hunger hatte, sogar eine Groschensemmel. Die war dreiteilig und auch am Nachmittag noch frisch und knusprig. Das alles war der Grund, dass ich immer darauf achtete, nie eine Gymnastikstunde zu versäumen. Einmal bin ich mit meinen Onkel Karl nach Weimar gefahren. In der Ettersburger Straße war ein Gasthaus mit »Ausspanne«. Dort haben wir Pferde und Wagen untergestellt und sind zu Fuß in die Stadt gelaufen. Ich kann mich noch erinnern, dass wir am Herderplatz in einer Gaststätte, gegenüber der Herderkirche Mittag gegessen haben. An der Wand hing eine Tafel, auf der stand: »Trink dich satt und iss dich dick, sprich hier aber nicht von Politik.« Auf dem Rückweg haben wir in der Gaststätte noch Abendbrot gegessen. Das war frisches Brot und frische Hausmacher-Knackwurst. Das war so reichlich, dass ich die Wurst nicht ganz essen konnte. Ich nahm den Rest mit. Den Geschmack dieser Wurst habe ich heute noch auf der Zunge. Ich habe natürlich den Rest noch am Abend gegessen. Am anderen Tag sagte Onkel Karl, ich solle nicht vergessen, den Rest Wurst aus der Tasche zu nehmen. Onkel Karl war sehr sparsam. Er war ja für die Finanzen der Gemeinde verantwortlich. Am Monatsende rief er mich in sein Büro. Das war hauptsächlich in den letzten drei Jahren. Auf seinem Schreibtisch hatte er Geld in Scheinen und Münzen ausgebreitet und ich musste alles zählen. Onkel Karl war der einzige, der mir auch einmal einen Groschen in die Hand drückte. Wenn einmal Besuch kam stellte er mich vor als »unser Hofmeister«. Mittlerweile war ich schon solange in Stedten, dass ich in die Konfirmandenstunde musste. Die fand in Ottmannshausen statt. Ich musste öfter