Mein Leben davor. Richard Mackenrodt. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Richard Mackenrodt
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783738017359
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Ihnen durchaus, dass Sie das ernst meinen. Und ich bin davon überzeugt, dass Ihnen das Laufen gut tut, da gibt es ja gar keinen Zweifel. Trotzdem wäre damit ein Risiko verbunden, dass ich nicht eingehen kann.«

      »Was denn für ein Risiko?«

      »Vor wenigen Wochen hatten Sie vor, sich umzubringen, sogar gegen massiven Widerstand. Sie haben sich schwere Verletzungen zugefügt.«

      »Das ist vorbei! Das hab ich hinter mir!«

      »Das möchte ich gerne glauben, Herr Magnusson, aber woher soll ich wissen, dass das so bleibt? Meiner Meinung nach sind Sie für eine solche Maßnahme noch nicht stabil genug.«

      »Ich fühle mich großartig.«

      »Michael hat mir auch erzählt, dass Sie beim Laufen dazu neigen, zu übertreiben. Er muss Sie bremsen und das Band ausschalten, sonst würden Sie laufen bis zum körperlichen Zusammenbruch.«

      »Ich bin eben ehrgeizig. Daran ist doch nichts Schlechtes.«

      »Ahnen Sie nicht, worauf ich hinaus will? So, wie Sie laufen – das ist typisches Suchtverhalten. Erst die Sexsucht, dann die Drogen, jetzt das Laufen. Es tut mir leid, aber ich kann Sie erst nach draußen lassen, wenn ich sehe, dass Ihr Verhalten sich normalisiert.«

      Ich saß nur noch da und sagte nichts mehr. Innerlich nannte ich ihn einen Scheißkerl, aber ich wusste auch, dass er Recht hatte. Leider.

      Trotzdem trainierte ich weiterhin mit der gleichen Verbissenheit, denn ich hatte bereits den Punkt überschritten, von dem aus es kein Zurück mehr gab. Ich hatte die Herausforderung angenommen, die mein Schmerz an mich gestellt hatte, und jetzt wollte ich wissen, wer stärker war – er oder ich. Mein Ehrgeiz blieb niemandem in der ganzen Klinik verborgen, jeder kannte mich als den Läufer. Ich trainierte so viel, dass Michael sich mit anderen Kollegen abwechseln musste, wenn es darum ging, mich auf dem Laufband im Auge zu behalten, sonst hätte er einen Haufen Überstunden machen müssen. Eines Morgens schnürte ich die Laufschuhe, als er in mein Zimmer kam, gefolgt von zwei seiner Kollegen, alle drei in Sportkleidung.

      »Zieh dir noch was über«, sagte er, »draußen ist es kalt.« Er grinste. Ich konnte es nicht fassen.

      »Wie hast du das geschafft?!«

      »Ich hab den Boss gefragt: Was ist, wenn wir den Alex zu dritt begleiten? Da hat er Ja gesagt.«

      »Zu dritt?!«

      »Du kriegst ‘ne richtige Eskorte, Mann.«

      Die drei strahlten mich an, und ich glaube, ich habe feuchte Augen bekommen. Das war so ziemlich das Rührendste, was jemals jemand für mich getan hatte. Unterwegs überredete ich die Jungs immer wieder, die Runde noch größer zu machen, und am Ende hatten wir ungefähr 17 Kilometer abgespult. Wenige Tage zuvor hätte ich noch nicht für möglich gehalten, dass ich im Leben einmal so weit laufen könnte. Am Morgen darauf hatte ich so brutalen Muskelkater, dass ich kaum gehen konnte. Die Treppe hinauf zum Fitnessstudio bin ich rückwärts gegangen, weil die Oberschenkel sonst bei jeder Stufe aufgejault hätten. Das war aber kein Grund für mich, einen trainingsfreien Tag einzulegen. Das alles waren positive Schmerzen, und gestern, nach den 17 Kilometern, hatte ich erlebt, wie sehr der Schmerz in meinem Kopf sich für den Rest des Tages mit einer Nebenrolle hatte begnügen müssen. Das brauchte ich heute sofort wieder, dazu gab es überhaupt keine Alternative. Klar war das Suchtverhalten, was denn sonst. Aber diese Sucht konnte mich von der Verdammnis erlösen. Andererseits war es natürlich genau das, was Süchtige von ihrer Sucht stets gerne glauben wollten. Wie auch immer: Ich hatte keine andere Wahl. Dies war der Weg, den ich würde gehen müssen.

      Bei unserem nächsten Lauf wollte Michael wissen, ob meine Eltern eigentlich aus Schweden kamen, wegen meines Nachnamens.

      »Mein Opa kam aus Uppsala«, sagte ich. »Direkt nach dem Krieg wollte er unbedingt nach Deutschland.«

      »Wieso?«

      »Er war Fotograf und wollte die ganzen Trümmer fotografieren. Seine Bilder sind später Jahre lang ausgestellt worden, in der ganzen Welt.«

      »Und dabei hat er deine Oma kennen gelernt?«

      »Zuerst wollten sie zusammen nach Schweden ziehen. Aber dann wurde Oma schwanger, mit Papa. Und da sind sie in Deutschland geblieben.«

      ***

       Ich träumte wieder den merkwürdigen Traum vom Krankenbett in dem Raum mit den dunklen Backsteinmauern. Aber diesmal war alles ein wenig anders. Ich hörte die Stimme meines Großvaters, und er sang mit seiner alten Stimme das fröhliche schwedische Kinderlied, das er mir beigebracht hatte, als ich ganz klein gewesen war. Er war aber nicht im Raum, ich hörte nur seine Stimme, als würde sie aus der Wand kommen. Noch immer konnte ich nicht sehen, wer eigentlich in diesem Bett lag, angeschlossen an die Geräte und die Infusion, die ganz langsam durch den Schlauch sickerte.

      Beim Frühstück erzählte ich Dimitri davon. Er wollte wissen, wovon das Kinderlied handelte.

      »Es wird von einem Elch gesungen, der am Straßenrand steht und sich darüber beklagt, dass er nicht auf die andere Seite kommt, weil die Autos alle so schnell fahren.

      »Lustige Lied?«

      »Ja.«

      »Sing mal.«

      »Ich kann nicht singen.«

      »Komm schon, Alex, jeder kann singen.«

      »Du vielleicht. Ich nicht.« Dimitri sang öfter Wenn ich einmal reich wär aus dem Musical ‚Anatevka‘ und tanzte dazu Kasatschok, und das machte er gar nicht mal so schlecht. Wenn man ihn dabei erlebt hatte, konnte man sich kaum vorstellen, dass er jemand war, dessen ganzes Trachten und Sehnen darauf gerichtet war, sich das Leben zu nehmen. Aber er war auch jemand, der nicht locker ließ, wenn er sich mal etwas in den Kopf gesetzt hatte, und jetzt legte er es darauf an, mich zum Singen zu überreden. Also tat ich es schließlich doch:

      »Hur ska jag göra för att komma över vägen«, sang ich leise, und ich war selbst darüber erstaunt, wie gut ich die Töne traf. Na ja, jedenfalls die meisten. »Hur ska jag göra för att komma över dit.« Ich räusperte mich verlegen und sagte: »So, das muss jetzt aber reichen.«

      Dimitri applaudierte höflich, dann sah er mich lange an.

      »Warum guckst du so? War mein Gesang so schlimm?«

      »Alex, fragst du dich gar nicht mehr, woher sie kommen, deine Schmerzen?«

      Ich zuckte mit den Schultern. »Die Ärzte haben nichts gefunden, also was soll ich machen?«

      »Ärzte wissen nicht alles.«

      »Manche Leute, Dimitri, die haben andere Dinge, einen Tinnitus zum Beispiel, so ein Geräusch im Ohr, das hören sie Tag und Nacht. Meistens findet man heraus, woher es kommt, manchmal aber auch nicht. Oft verschwindet der Ton wieder, aber es kann auch sein, dass er bleibt. Für immer. Dann muss man damit leben, ob es einem passt oder nicht. Genauso ist das mit dem Schmerz in meinem Kopf. Wenn ich wüsste, wo er herkommt, davon würde er auch nicht verschwinden.«

      »Kann sein, du hast Recht«, sagte Dimitri. »Aber vielleicht machst du Irrtum. Dinge oft haben tiefere Sinn, aber wir können nicht sehen. Ich zum Beispiel frage jeden Tag: Wieso so viel Sehnsucht nach dem Tod? Und andere Frage: Wieso klappt nicht mit Umbringen? Ich bin unglücklich, das war ich schon immer. Aber weiß ich nicht wieso. Viele bringen sich um, weil sie sich hassen. Aber ich hasse mich nicht. Find ich mich ganz okay. Findest du mich okay?«

      »Ich finde dich sogar sehr okay.«

      »Gibt Dinge, die machen mir Spaß. Singen, Tanzen, Reden. Einen Plan ausdenken, wie ich mich umbringen könnte. Gibt auch Menschen, die ich gerne habe. Dich zum Beispiel.«

      »Ich mag dich auch, Dimitri.«

      »Aber ich hab Gefühl, ich gehör hier nicht her.«

      »In diese Klinik?«

      »Nein, in diese Welt. Bin ich zu falsche