Ulrich Karger, Berlin, im Januar 2013
I. BRIEFE
Die Veröffentlichung der Briefe von Kemal Kurt geschieht im Einverständnis seiner Nachlassverwalterinnen, der Witwe Hildegard Kurt und seinen Töchtern Lena und Meral. Die gemeinsam zum Schutz der Privatsphäre verabredeten Auslassungen sind mit [..] kenntlich gemacht. Überschrieben sind diese Email-Briefe mit den jeweiligen Absendedaten, die darunter mit Spiegelstrichen - in der Printausgabe kursiv - gekennzeichneten Überschriften weisen zur leichteren Orientierung auf die darin von Kemal Kurt angesprochenen Themen hin.
Berlin-Schöneberg, den 1. Februar 2001
Lieber Ulrich,
Du machst wirklich Nägel mit Köpfen. Kaum hatten wir darüber gesprochen, schon fand ich Deinen ersten Brief im Kasten. So muss man es auch machen, sonst verschiebt man es auf den Sankt-Nimmerleins-Tag. Erst wollte ich Dich um eine Gnadenfrist bitten, wo ich doch jetzt gerade allmählich ein wenig zu mir komme und mich vor dem Amerika-Aufenthalt unbedingt um den Wiedereinstieg in meinen Roman kümmern möchte, damit die Zeit dort wirklich produktiv wird. Irgendwann muss ich ja mit diesem Roman fertig werden. Aber gut, warum nicht jetzt schon auf kleiner Flamme anfangen, damit die Sache wenigstens ins Rollen kommt.
Also ich war fest entschlossen, Dir schon am Wochenanfang zu schreiben, da kam der Nord-Süd-Verlag mit einer Übersetzung eines weiteren Eisbär-Buches dazwischen.
[..] Sich einfach mal von Freund zu Freund, von Kollege zu Kollege austauschen. Ich verspreche mir davon, mich mit existenziellen, beruflichen und privaten Themen auseinanderzusetzen, für die man sich sonst die Zeit und die Muse nicht gönnt. Die schriftliche Ausdruckweise wird, denke ich, für eine gewisse Verbindlichkeit und Sorgfalt und tiefer gehende Reflexionen sorgen. Unbedingt sollten die Briefe in zwei Richtungen gehen. Auch Du hast für Dich einen Weg gewählt, der meinem sehr ähnelt, indem Du, anstatt in Deiner schönen, malerischen bayerischen Heimat zu leben, es vorgezogen hat, Dich im grau-kalten Preußenland niederzulassen. Auch Du plagst Dich wie ich mit einer undankbaren schriftstellerischen und darüber hinaus literaturkritischen Tätigkeit. Wie kamst Du darauf? Die Gründe hierfür, Dein Weg dahin, schreien danach, erzählt zu werden. Fang an! Über manche Themen wie Religion hast Du Dir bestimmt viel mehr Gedanken gemacht als ich. Für mich war das praktisch kein Thema – Du wirst Dich wundern, wie wenig ich darüber weiß.
Zeitlich gesehen hat die Sache für mich einen Haken. Schreiben auf Deutsch war für mich immer eine Fronarbeit. Es fließt alles nicht so schnell und gut ausformuliert wie bei Dir aus meiner Feder / meinem Cursor, sondern braucht viel Zeit und Konzentration, verbraucht viel Energie. Ich muss sie ja erstmal haben, von meiner täglichen Arbeit bleibt nicht viel davon übrig. Keinesfalls darf ich zulassen, dass ein fälliger Brief mich innerlich unruhig macht und bedrängt mit der Folge, dass ich eine andere angefangene Sache schluderig mache. Also ich plädiere dafür, keine zeitliche Grenzen zu setzen. Ein Brief muss warten können, bis Zeit und Muse dafür da ist. Wir dürfen einen eine Weile liegengebliebenen Brief nicht als eine Störung empfinden.
– Eigene Kindheit I
In diesem Sinne fange ich an:
Meine Eltern verbrachten ihre Jugend in einem Dorf in der Nähe von Bulgarien. Dort lebten einmal viele Türken, die nach und nach in die Türkei eingewandert sind und das heute noch tun. Das Dorf meiner Eltern kam Ende der zwanziger Jahre geschlossen in die Türkei. Die türkische Regierung wies ihnen Land zu, und sie bauten ihr Dorf an einem anderen Ort wieder auf.
Die Bewohner von Cesmeli erzählen, dass sie unter den Bulgaren sehr gelitten haben und zur Ausreise gedrängt wurden. Fest steht, dass sie alle ein sehr niedriges Bildungsniveau hatten. Auch heute noch sind die Gebiete der türkischen Minderheit in Bulgarien ärmlicher und rückständiger als der Rest des Landes.
Ich bin in diesem Dorf geboren. Ich muss drei Jahre alt gewesen sein, als meine Eltern die Landwirtschaft aufgaben, das Ackerland an Verwandte verpachteten und in die Stadt zogen. Çorlu zählte damals vielleicht 20.000 Einwohner. Mein Vater begann, als Blechschmied Blechöfen herzustellen. Er war unruhig und sehr ungeduldig. Oft wechselte er den Beruf, arbeitete als Fassbinder, Bauer, Blechschmied, Holztransportunternehmer usw., nirgendwo hielt es ihn lang. Offenbar war er handwerklich sehr geschickt, ich weiß nicht, wo er all diese Tätigkeiten gelernt hat.
Ohne Maschinen und lediglich mit wenigen Nutztieren, so erzählten meine Eltern und auch meine älteste Schwester, die diese Zeit als heranwachsendes Mädchen erlebt hat, muss die Landwirtschaft für alle eine harte Knochenarbeit gewesen sein. Auf jeden Fall waren sie froh, nunmehr in der Stadt zu wohnen.
Mein Vater war sehr temperamentvoll. Oft war er sanft, nachdenklich und extrem fürsorglich. Manchmal rastete er aus und zeigte, wie Wutausbrüche aussehen können. Oft ließ er sich an Gegenständen aus. Ich habe aber auch erlebt, wie er einmal meine Mutter und einmal meine Schwester schlug.
Mich schlug er nie. Als der einzige Junge in der Familie und jüngstes der Kinder habe ich von ihm viel Zuwendung erhalten, aber nicht nur von ihm, auch von meiner Mutter und den drei älteren Schwestern. Mein Vater hat mich regelrecht verwöhnt mit allen