Es geschah am Main. Gitte Loew. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Gitte Loew
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783738041422
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wäre das Risiko zu hoch. Er sah sich unschlüssig um und beobachtete die langsam untergehende Sonne. Der Mond war schon auf der anderen Seite des Himmels als bleiche Scheibe zu sehen. Nach einer Weile richtete sich Kevin auf, zog die Flasche aus dem Rucksack und nahm einen kräftigen Schluck. Dann reichte er seinem Begleiter den Schnaps mit der Aufforderung:

      „Hier trink was, bevor du dich auf den Heimweg machst.“

      Darauf hatte er gewartet. Er griff nach der Flasche und tat so, als ob er trinken würde, und stellte sie anschließend wieder ins Gras. Der Fremde setzte den Schnaps noch einmal an die Lippen und nahm einen langen Zug, bevor er die Flasche zur Seite legte. Er streckte sich aus und bettete seinen Kopf auf den Rucksack. Abendstille legte sich über die Wiesen. Vögel zwitscherten ihre letzten Lieder vor Einbruch der Dunkelheit.

      Der Kleine erhob sich mit einem Mal und verschwand mit der Bemerkung:

      „Ich muss mal pinkeln.“

      Er schlich sich fort und suchte in der Dämmerung nach einem passenden Stein. Dann kauerte er sich in einiger Entfernung hin und wartete, was passieren würde. Kevin starrte noch immer in den Himmel und hing anscheinend seinen Gedanken nach. Irgendwann drehte er sich auf die Seite und achtete nicht mehr auf seinen Begleiter. Der verharrte noch eine Weile, um sicher zu sein, dass der Mann auch schlafen würde. Dann schlich er sich vorsichtig an. Es war dämmrig geworden, aber er konnte noch sehen, dass dem Zimmermann der Schlapphut ins Gesicht gerutscht war. Sein Oberkörper bewegte sich sanft auf und ab. Er schien zu schlafen.

      Vorsichtig kniete er sich neben ihn, umfasste den Stein mit beiden Händen und schlug mit aller Wucht auf den Schlafenden ein. Der zuckte zusammen, seine Hände fuhren vor Schmerz in die Höhe und ein Schrei durchdrang die Stille. Doch da ereilte ihn schon der zweite Schlag. Blut spritzte dem Angreifer ins Gesicht, doch der nahm es nicht wahr. Er war wie im Rausch und schlug den Stein noch mehrere Male auf den Kopf des Wehrlosen. Erst als der Mörder außer Atem war, sackte er ins Gras zurück.

      Es war still. Nichts rührte sich, nur ab und zu war der Flügelschlag eines Vogels zu hören, der über den See flog. Nachdem sein Atem wieder gleichmäßiger geworden war, durchwühlte er die Taschen seines Opfers und nahm ihm sein Geld und die Kette ab. Danach versuchte er, Kevin zum Zaun zu rollen. Doch der Tote war schwerer, als er angenommen hatte.

      Er stand auf und zog den Mann an den Beinen weiter. Es kostete ihn eine enorme Kraft, den leblosen Körper bis zum Zaun zu schleifen. Mit vor Anstrengung gerötetem Gesicht bog er den alten Maschendrahtzaun hoch. Dann kniete er sich neben das Opfer und rollte ihn mit großer Kraftanstrengung unter dem Draht hindurch auf die andere Seite. Anschließend fiel er atemlos ins Gras.

      Nachdem er wieder schnaufen konnte, ergriff er den Rucksack seines Opfers und warf ihn weit über den Zaun. Kevin Schmidt war nun auf einer Wanderschaft, von der er nicht mehr zurückkehren würde.

      Er drehte sich vorsichtig um und hielt Ausschau, ob jemand in der Nähe war. Dann eilte er im Laufschritt zum Badesee, wusch sich Gesicht und Hände und blieb noch eine Weile am Wasser sitzen. Nachdem die Nacht alles Licht verschluckt hatte, stand er auf und machte sich in der Dunkelheit auf den Rückweg.

      Er schlich leise in die Wohnung seiner Verwandten und stieg noch mit seinen Klamotten am Leib in die Badewanne. Dann versuchte er mit der Handwaschbürste das Blut aus den Kleidern zu schrubben. Doch die Flecken verschwanden nicht so einfach. Er riss sich Shirt und Hose vom Leib und kletterte wieder aus der Wanne.

      Wo hatte die Alte nur den Badreiniger versteckt? Er entdeckte ihn hinter der Toilette, schraubte die Flasche auf und ließ die blaue Flüssigkeit über die verschmutzten Sachen laufen. Dann griff er nach einem Putzeimer, der in der Ecke stand, und füllte ihn bis zum Rand mit Wasser. Danach drückte er den Stoff unter Wasser, bis bläuliche Blasen aufstiegen. Bis zum Morgen würden die Flecken verschwunden sein.

      Schachmatt huschte er in seine Kammer und fiel aufs Bett. Er wollte schlafen, aber es dauerte lange, bis er endlich in der anderen Welt angekommen war.

      Kapitel 3

      Uli Möller wählte die Nummer seiner Mutter. Niemand nahm den Hörer ab. Komisch, heute an Silvester war sie nicht zu Hause? Was gab es denn noch so Wichtiges zu erledigen? Als er gestern Abend angerufen hatte, war sie auch nicht ans Telefon gegangen. In diesem Jahr hatten Regine und er den Skiurlaub bis in den Januar hinein verlängert. Wann gab es schon mal so viel Schnee? Unschlüssig ging er nach unten in die Hotelhalle und hielt Ausschau nach seiner Frau. Er entdeckte sie im Frühstücksraum, als sie gerade zum Buffet ging. Möller setzte sich schlecht gelaunt an den Tisch. Regine kam mit einem Teller in der Hand zurück:

      „Und, hast du sie erreicht?“

      „Nein. Ich habe ein ungutes Gefühl.“

      „Dann ruf Marlies an, und bitte sie mal nachzuschauen. Andernfalls verdirbt uns die Ungewissheit den ganzen Tag und die Silvesterfeier heute Abend.“

      Seine Frau hatte recht. Uli Möller griff zum Handy und wählte die Nummer der Nachbarin. Eine Frauenstimme meldete sich. Er atmete erleichtert auf, Gott sei Dank, sie war noch zu Hause.

      „Hallo, Marlies, meine Mutter geht nicht ans Telefon. Könntest du mal nachsehen, ob bei ihr alles in Ordnung ist?“

      „Vielleicht ist sie nur zum Einkaufen gegangen.“

      „Nein, das glaube ich nicht. Ich konnte sie schon gestern Abend nicht erreichen. Wir dachten, dass sie vielleicht früher zu Bett gegangen sei, aber heute Morgen sind wir beunruhigt, schließlich ist sie nicht mehr die Jüngste.“

      Marlies Steinacker wusste, was er von ihr erwartete. Sie seufzte:

      „Gut, ich gehe rüber und schaue nach. Danach melde ich mich wieder bei dir.“ Mit diesen Worten legte sie auf.

      Möller schenkte sich eine weitere Tasse Kaffee ein, doch die Ungewissheit hatte ihm den Appetit verdorben. Er starrte lustlos zum Fenster hinaus. Ein komisches Gefühl breitete sich in seinem Magen aus. Zwischen all der Angst stieg Ärger in ihm hoch. Unzählige Male war das Thema Altenheim im Kreis der Familie besprochen worden, aber sie hatte sich immer geweigert umzuziehen. Er griff in Gedanken versunken nach einem Hörnchen, das seine Frau ihm auf den Teller gelegt hatte. Die Angelegenheit hing wie eine dunkle Wolke über ihrem diesjährigen Winterurlaub.

      Nach dem Frühstück wollten sie den Rückruf der Nachbarin abwarten und gingen vorerst nicht zum Skilaufen auf die Piste. Die Ungewissheit machte sie nervös. Sie starteten stattdessen zu einem Spaziergang in Richtung Ettelsberg und blickten sehnsüchtig auf die Wintersportler. Die Seilbahn ist die einzige im Rothaargebirge und überwindet 235 Höhenmeter. Uli stöhnte leise vor sich hin. Heute war optimales Wetter zum Skilaufen. Verdammter Mist. Wütend stampfte er mit den Stiefeln in den Schnee.

      ***

      In Frankfurt nahm derweilen Marlies Steinacker den Schlüsselbund vom Haken, steckte ihr Handy ein und machte sich auf den Weg ins Nachbarhaus. Das Jahr ging zu Ende und überall lag Schnee. Sie versuchte, möglichst trockenen Fußes das andere Gebäude zu erreichen. Passanten huschten eilig an ihr vorüber. Auf den letzten Augenblick wurden noch schnell Dinge für den Jahreswechsel eingekauft. Die weiße Schneepracht verschwand unter den vielen Autoreifen und übrig blieb nur grauer Matsch am Rande der Fahrbahn.

      Frau Möller wohnte im ersten Stock. Marlies klingelte an der Haustür. Es rührte sich nichts. Sie stieg die Treppen hoch, schellte noch einmal an der Wohnungstür und schloss erst dann auf. Als sie die Tür öffnete, schlug ihr ein modriger Geruch entgegen. Vermutlich lüftete Frau Möller zu wenig. Marlies spürte Übelkeit ins sich aufsteigen und rief nach ihr mit leiser Stimme:

      „Hallo, Ruth, wo bist du?“

      Nichts rührte sich. Sie ging langsam in Richtung Küche. Die Tür stand einen Spalt breit offen. Im ersten Moment sah alles wie immer aus. Doch dann sah sie Frau Möller. Sie lag auf dem Fußboden, etwas verdeckt vom Küchentisch, der in der Mitte des Raumes stand. Marlies‘ Herz begann schneller zu schlagen und ihr Mund war mit einem Mal trocken. Sie flüsterte:

      „Ruth,