Der Schnüffel-Chip. Jay Bates. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Jay Bates
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783847643883
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      24.

      Sein morgendliches Schwimmprogramm, drei- bis viermal in der Woche, nutzte Lander nicht nur zur Behandlung seines verspannten Rückens, unter dem er häufig nach langen Stunden am Schreibtisch mit lähmender Büroarbeit oder auch am Bildschirm mit langwierigen Recherchen litt. Er benutzte den regelmäßigen Takt, in dem er seine Bahnen zog, auch gerne zum entspannten Nachdenken über schwierige Fälle – sofern er zur Entspannung fähig war. Eine Stunde Schwimmen förderte mehr gute Ideen zutage als acht Stunden an Grabungen in den Staubwüsten der Ermittlungsakten – wenn nicht schwachsinnige Kaufhausmusik oder jaulende Folklore aus der Heimat des Schwimmmeisters die guten Gedanken aus ihm herauspressten wie Most aus reifen Trauben. Manchmal jedoch verschwendete er mehr Energie darauf, sich zu ärgern, entweder über lärmende undisziplinierte Schulklassen oder über seinen ”Lieblingsfeind”, den er den ”ägyptischen Schraubendampfer” getauft hatte. Er vermutete zwar nur aufgrund seines Aussehens, dass es sich um einen Ägypter handelte – „irgendwie sieht er so aus!”, verteidigte er sich, wenn er seinem Kollegen mal wieder empört dessen Schwimmstil schilderte, der ihn mit Wellen und Spritzern störte. „Stell dir vor, beim Kraulen platscht er mit den Füßen im Wasser herum, das spritzt über zwei Bahnen hinweg... ich meine, wo hat er denn das gelernt?! Wie soll ich mich denn da auf was anderes konzentrieren, wenn er mir ständig Wasser in die Augen schleudert?”

      Natürlich bot ihm sein Schwimmen auch Gelegenheit, seine Fitness – sofern man davon reden konnte – zu überprüfen. Gerne stellte er sich vor und nach dem Sport auf die Waage, um zu sehen, ob das Training einige Gramm seiner dreiundachtzig Kilo zum Verschwinden gebracht hatte. Meist eine vergebliche Hoffnung. Ebenso wie das Warten auf den euphorischen Zustand, der sich nach dem Schwimmen angeblich – Seite siebzehn seines Fitnessbuches – durch die erhöhte Serotonin-Ausschüttung einstellen sollte. Und fast ängstlich maß er jedes Mal auch nach, ob der eine Zentimeter, um den er zu seiner Freude die eins-achtzig überragte, nicht durch seine sitzende Tätigkeit oder einfach die Last des Alters geschrumpft war.

      Gelegentlich hielt er auch mit anderen Stammgästen ein kleines Schwätzchen, so in der Art:

      „Hallo!“

      „Morgen!“

      „Wie geht’s?“

      „Gut. Und selbst?“

      „Auch gut, danke!“

      „Borussia…“

      „Katastrophe!“

      „Wie wahr! Na dann…“

      „Man sieht sich!“

      Ab in die Dusche.

      So kam er oft ganz leergequatscht ins Büro und zeigte sich von seiner wortkargen Seite. Dann musste man ihn erst einmal in Ruhe lassen.

      Dass er am Vortage umsonst morgens früh aufgestanden war, hatte er auch erbost am Arbeitsplatz zu besten gegeben: „Stellt Euch vor, da gehen vor mir zwei Kopftuchlieseln ins Bad...”

      „Muslimas, meinst du!”, unterbrach ihn ein für seine liberale Einstellung etwas schräg angesehener Kollege.

      „... Muslimas, auch gut, und wie ich reingehen will, zeigen sie auf ein neues Schild am Eingang. ‚Frauenschwimmtag’ stand darauf, und darunter ‚Für Männer und männliche Kinder ab 3 Jahren und Jugendliche gesperrt’. Ab drei Jahren, ich meine, wo sind wir denn?”

      „Und wo war der Schwimmmeister, durfte der auch nicht rein?”, erkundigte sich ein Kollege.

      „Ja, weiß ich ja nicht, ich kam ja nicht rein! Muss ich direkt mal fragen, das wär’ ja das Letzte!”

      Und so hatte er nicht versäumt, am heutigen Tag eine ihm bekannte Kollegin, die ihren Frühsport auf der Nachbarbahn gerade beendete, nach diesem Umstand zu befragen. Und siehe da: das Bad war an diesem Tag männerfrei, total und vollständig. Während er noch amüsiert und etwas ungläubig darüber den Kopf schüttelte, versuchte er, bei den ersten gleichmäßigen Zügen seine Gedanken in eine andere Richtung zu lenken. Wer sticht einen ärmlich aussehenden Afrikaner morgens um neun mit siebenundzwanzig Stichen nieder? Wer benutzt ein Messer mit so kleiner Klinge? Was sind das für Farbkleckse auf dem Mantel des Opfers? Wieso gibt es keine Zeugen, es stehen aber ein Dutzend Nachbarn am Tatort und gaffen? Was hat die Klemke alles gesehen? Wenn es Kinder waren, wieso waren sie dann nicht in der Schule? Und in welcher überhaupt? Woher kam denn das Handy-Video? Wieso war Beko trotzdem mit leeren Händen zurückgekommen?

      Während er noch versuchte, seine Gedanken auf eine mögliche Rekonstruktion des Tatherganges zu lenken, wurde er gestört. Eine Schulklasse, Jungen und Mädchen so um die zwölf Jahre, war unter großem Getöse aufgetaucht. Ein einziger, sichtlich überforderter Lehrer begann eine grobe Ordnung in die Gruppe zu bringen, entfernte die Absperrung zwischen Bahn eins und zwei, versuchte die vom Schwimmen befreiten Schüler von den aktiven zu trennen. Missmutig betrachtete Lander die Gruppe der fetten und schwabbeligen Gestalten, die lärmten und tobten und den Lehrer weitgehend ignorierten. Zwei Jungen fielen ihm auf und ein Mädchen, die rank und schlank und altersgemäß aussahen, der Rest war ungelenk und unansehnlich. Wie sollte man mit diesen Kindern noch Spaß am Sportunterricht haben, fragte er sich und hatte fast ein wenig Mitgefühl.

      Eine Zeitlang beobachtete er das Chaos, in dem der Lehrer seine Trillerpfeife als fruchtloses Symbol seiner Macht einzusetzen versuchte. Das Drittel der Gruppe, das vom Schwimmen befreit war, vertrieb sich die Zeit mit Gameboys und Handys und redete in allen Sprachen durcheinander. Den anderen sollte offenbar der Kopfsprung beigebracht werden. Amüsiert beobachtete Lander, wie die ungelenken dicken Klopse wie Seekühe ins Wasser platschten. Doch nach einiger Zeit verlor er das Interesse an diesem Schauspiel und dachte wieder über den Mordfall nach. Kaum bemerkte er, dass die Gruppe nach relativ kurzer Zeit wieder verschwunden war.

      Als er in den Umkleideraum zurückkehrte, sah er es sofort: sein Handtuch, das er neben dem Schließfach für die Kleidung auf die Bank gelegt hatte, lag nass und zusammengeknüllt auf dem Boden, daneben leer und plattgetreten seine neue Plastikflasche mit dem teuren Shampoo. Der gesamte öffentliche Umkleideraum erinnerte an ein verlassenes Feldlager einer Rotte von Hunnen.

      Da er im Unterbewussten die Gruppe noch im Vorraum des Bades bemerkt hatte, warf er sich seinen Bademantel über und rannte wutentbrannt aus dem Umkleideraum. Die Schulklasse schickte sich in diesem Augenblick zum Gehen an.

      Überrascht blickte der Lehrer auf, als Lander ihn aufgeregt zur Rede stellte. Die Jungs der Gruppe feixten. Das konnte der Lehrer natürlich nicht auf sich sitzen lassen. Er wurde sofort aggressiv. Ein hitziger Wortwechsel entwickelte sich, bis Lander sein Pulver verschossen hatte. Irgendwann wurde ihm klar, dass er seine Energie ohne Aussicht auf irgendein Ergebnis verschleuderte.

      Was soll´s!, dachte er, geschehen ist geschehen. Ein neues Shampoo kriege ich ja doch nicht. Resigniert drängte er sich durch die johlenden Kinder und trat den Rückzug an.

      Als er sich nach dem Duschen provisorisch mit dem Bademantel als Ersatz für sein nasses Handtuch trockenrubbelte, fiel eine Visitenkarte aus dessen Tasche. Irgendwer aus der Klasse musste sie ihm zugesteckt haben, als er sich durch die Umstehenden gedrängt hatte. Erstaunt betrachtete er die Inschrift:

       Lola & Lolita

       Photostudio

       0190 – 46 46 37

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