Nina, die bis gerade eben noch im Zimmer auf und ab gegangen war, ließ sich auf Iris‘ Bett plumpsen. Julia Krüger, diese freundliche und sympathische Frau, sollte eine falsche Schlange sein? Sie konnte und wollte es zuerst nicht glauben, doch je mehr sie darüber nachdachte, desto mehr ergab das Ganze Sinn! Wie oft hatte Julia in der letzten Zeit angerufen, um mitzuteilen, dass ihr Papa erst sehr spät heimkommen würde? Wie oft war er früh morgens angeblich schon aus dem Haus gewesen, also vermutlich gar nicht erst nach Hause gekommen?
Iris setzte sich neben ihre Freundin und legte ihr einen Arm um die Schulter. „Es tut mir so wahnsinnig Leid, Nina. Was sollen wir denn jetzt machen?“, fragte sie leise.
Sie schwiegen eine Weile, bis plötzlich ihre Handys gleichzeitig klingelten. Es war ein Videoanruf von Madeleine und Lisa. Erstaunt ging Nina ran und Iris drückte das Gespräch weg. Sie rückten näher zusammen und staunten nicht schlecht, als sie zeitgleich mit den anderen beiden ihrer Clique verbunden war.
„Ich wusste überhaupt nicht, dass man über WhatsApp auch mit mehreren gleichzeitig telefonieren kann“, gab Nina zu.
„Ich wusste noch nicht mal, dass man darüber überhaupt telefonieren kann, von einem Videoanruf ganz zu schweigen“, meinte Iris verlegen.
Madeleine winkte ab. „Wie das geht erkläre ich euch später“, sagte sie. „Jetzt ist es erstmal wichtig, dass wir uns überlegen, was wir wegen deines Papas machen, Nina. Willst du ihn direkt zur Rede stellen?“
Erschrocken schüttelte die Angesprochene den Kopf.
„Nein, dann muss ich mir am Ende noch etwas anhören, weil ich gelauscht habe!“, rief sie und Iris nickte bekräftigend.
„Ihr Papa dreht einem das Wort im Mund um, egal was man sagt. Er ist eben Rechtsanwalt“, erklärte sie.
„Dann müsst ihr ihn halt auf frischer Tat ertappen“, schlug Lisa vor.
„Und wie soll ich das bitte anstellen?“, fragte Nina und sah abwartend auf das kleine Videobild von ihrer Freundin.
Kapitel 4
„Das klappt nie“, prophezeite Nina Iris, als sie gemeinsam durch den Gebäudeeingang traten. Sie waren auch noch nicht weit gegangen, als sie bereits hörten, wie jemand auf sie zu eilte.
„Hey Mädchen! Ihr könnt da nicht einfach rauf gehen!“, rief eine Männerstimme ihnen zu.
Nina blieb wie angewurzelt stehen und drehte sich in die Richtung des Rufs. Ein großer Mann, mit breiten Schultern kam auf sie zugeeilt. Für gewöhnlich saß er hinter einem Schreibtisch, direkt neben dem Eingang und kündigte die Besucher bei den einzelnen Büros an. Genau das hatten sie verhindern wollen, immerhin wollten sie Ninas Vater überraschen!
Der Mann baute sich vor ihnen auf und sah sie mit verschränkten Armen streng an, dann glätteten sich seine Gesichtszüge plötzlich.
„Ach du bist es Nina! Du willst bestimmt deinen Papa besuchen, oder?“, fragte er freundlich und die beiden Mädchen nickten eifrig.
„Soll ich ihm kurz Bescheid geben, dass ihr da seid? Dann kann er euch hier unten abholen“, schlug er vor, doch Nina schüttelte heftig den Kopf.
„Nein, das ist nicht notwendig“, erklärte sie zügig. „Ich muss ihm nur schnell etwas vorbei bringen, was er vergessen hat. Wir wollen ihn nicht unnötig stören.“ Zum Beweis hob sie eine Mappe hoch, die sie bei sich trug.
Der Pförtner nickte und ging wieder zurück zu seinem Tisch. Iris betätigte den Fahrstuhlknopf und es dauerte nicht lange, bis sich die Tür des Aufzugs öffnete. Die beiden Mädchen huschten hinein und Nina drückte die 5.
„Das war knapp“, stellte Iris fest, als sich die Tür des Fahrstuhls geschlossen hatte. In der Mappe war überhaupt nichts für Bernd, sondern darin befanden sich einige Einladungen für das Weihnachtsfest am Stall, die die Freundinnen zusammen verteilen sollten.
Oben angekommen atmeten sie noch einmal tief durch, bevor sie aus dem Aufzug heraus traten. Sie hatten sich gemeinsam mit Lisa und Madeleine gestern genau überlegt, wie sie vorgehen wollten. Jetzt musste ihr Plan nur noch aufgehen!
Nina drückte den Klingelknopf neben der grauen Tür der Anwaltskanzlei. Sobald die Tür ein lautes Summen von sich gab, stemmte sie sich dagegen und die Tür schwang zur Seite. Gemeinsam traten sie in den hellen Raum. Eine kleine Palme stand auf einem dekorativen Tischchen vor einer dunkelgrauen Couch. Julia Krüger, eine Blondine im schwarzen Rock und weißer Bluse, lächelte ihnen freundlich entgegen. Sie saß an einem Schreibtisch aus dunklem Holz und hatte einige Papierstapel vor sich liegen.
„Guten Morgen, Nina!“, flötete sie. „Dein Vater hat gar nicht erwähnt, dass du uns heute besuchen kommst. Und wer ist deine Freundin?“
„Hallo Frau Krüger, das ist Iris“, stellte Nina vor. „Wir verteilen gerade Einladungen für die Weihnachtsaufführung unseres Reitstalls. Da dachte ich mir, wenn ich schon in der Gegend bin, schaue ich mal kurz bei meinem Papa vorbei. Dann können Sie gleich den Termin in seinen Kalender eintragen.“
„Weißt du Nina, ich arbeite jetzt schon so lange für deinen Vater, nenn mich doch einfach Julia und spar dir das Sie“, antwortete sie. „Aber das mit der Terminplanung ist eine gute Idee! Lass gerne gleich eine Einladung hier und ich trag es ein!“
Nina nickte und fummelte ein Blatt Papier aus ihrer Mappe. Geduldig lächelte Julia weiter und nahm schließlich das Dokument entgegen.
„Wollen Sie“, Nina hielt kurz inne, um sich anschließend zu verbessern, „willst du auch zu unserer Feier kommen?“
Julia überlegte kurz, dann nickte sie. „Warum eigentlich nicht? Ich war schon lange in keinem Pferdestall mehr. Außerdem bin ich auf eure Vorführung gespannt.“
„Bist du denn früher selbst geritten?“, fragte jetzt Iris neugierig.
„In eurem Alter habe ich jede freie Minute bei den Pferden meines Opas verbracht“, verriet Julia. „Als er starb, wurden die Tiere und der Hof verkauft. Dann habe ich meine Ausbildung begonnen und irgendwie war plötzlich keine Zeit mehr für die Reiterei.“
„Dann solltest du unbedingt wieder damit anfangen!“ Iris Augen glänzten. „Mein Papa gibt auch Reitunterricht, auf echt tollen Pferden!“
„Die müsst ihr mir im Anschluss an die Vorführung alle vorstellen“, lachte Julia.
„Ist mein Papa denn überhaupt hier?“, wechselte Nina schnell das Thema. Der Gedanke daran, dass sie der neuen Flamme ihres Vaters in Zukunft öfter über den Weg laufen würde, gefiel ihr ganz und gar nicht.
„Ja, aber er hat gerade einen Mandanten, also einen Kunden, bei sich im Büro. Es wird wohl noch eine halbe Stunde dauern. Wollt ihr solange auf ihn warten?“, fragte Julia freundlich.
Die beiden Mädchen sahen sich kurz an, dann schüttelten sie den Kopf und wandten sich der Tür zu.
„Ach und Nina? Kannst du deiner Mama ausrichten, dass es heute wieder später wird? Bernd hat den ganzen Tag über Termine und am Abend muss er mit mir noch einige Fälle besprechen. Anders konnte ich es leider nicht einplanen“, entschuldigte sich Julia.
„Ich richte es aus“, antwortete Nina zähneknirschend und trat zusammen mit ihrer Freundin aus der Tür.
„Also auf mich wirkt sie ja ganz nett und sympathisch“, meinte Iris, als sie der Fahrstuhl wieder nach unten brachte.
„Aber glaubst du, dass es Zufall ist, dass sie heute Abend etwas mit meinem Papa besprechen muss und es deshalb später wird? Oder dass sie mir ausgerechnet jetzt das Du anbietet? Julia will sich bestimmt nur bei mir einschleimen! Darum kommt sie auch zu der Aufführung“, schlussfolgerte Nina und Iris nickte langsam.
„Jetzt