Ihre ältere Schwester, die Luise, war 29 und bewirtschaftete, wie eben erwähnt, seit sechs Jahren mit ihrem Mann die Rittstaller Alm.
Dann gab es noch einen Sohn, den Erstgeborenen, aber über ihn verlor der Johann kein Wort.
So, wo sind wir stehen geblieben?
Genau, bei dem heiteren Fest, bei dem der liebe Johann gerade mit voller Leidenschaft sein schönes Heimatlied gesungen hatte.
Die Sause dauerte noch die ganze Nacht über an. Es wurde weiter gesungen, getanzt, gesoffen und gelacht.
Und alle applaudierten, als des Brenner Karls jüngster Bub, der Erich, endlich den Mut aufbrachte und die bildhübsche Wirtstochter Marie küsste.
Die Leiden des Winters waren vergessen, die Freude überwog und man dankte dem Herrn, dass man auch heuer wieder von einer großen Lawine verschont geblieben war. Auch wenn das letzte, große Lawinenunglück schon fast 40 Jahre zurücklag, so geisterte doch jedes Jahr die Angst vor dem weißen Tod umher.
Sehen wir uns doch diese Tragödie von einst einmal kurz an.
Damals wurden mehrere Häuser, Ställe und Heuschober zerstört. Außerdem fanden ein kleiner Bub, Johanns Großvater und eine junge Magd in den Schneemassen ihren qualvollen Tod. In jenen dunklen Tagen waren der Ludwig und der Pfarrer übrigens noch ganz frisch in ihren Ämtern. Während der Ludwig mit der ganzen Situation völlig überfordert war, half der Pfarrer bei der Suche nach Verschütteten mit. Führend war hier Johanns Vater, der ja in der Katastrophe seinen Vater verloren hatte. Im anschließenden Frühjahr stieg der Pfarrer auf den Berg, von dem das kalte Monstrum gekommen war und betete. Er betete, dass Schöttau nie mehr wieder von einer Lawine heimgesucht werden sollte. Seine Gebete wurden anscheinend erhört, und das feierten die Schöttauer jedes Jahr. Sehr ausschweifend, auch im Jahr 1899, zum Zeitpunkt unserer eigentlichen Geschichte.
Doch all dieser Trubel und die überschwängliche Fröhlichkeit sollten nicht allzu lange andauern.
Am nächsten Tag schlug der Winter wieder mit klirrendkalter Faust zurück. Der Eiswind pfiff durch die Gassen und der Nebel hing tief und schwer im Tal.
Die Schöttauer Schickeria hatte auch nicht wirklich Zeit, um ihren Rausch auszuschlafen und stieg sehr früh an diesem Morgen aus dem warmen Bettchen. Im Rathauskeller fand ein Frühschoppen statt und da mussten noch einige Vorbereitungen getroffen werden.
2. Ein alter Dämon kehrt zurück
Der Johann verließ mit einem feschen Winterhut am Kopf gerade sein trautes Heim, als das ganze Übel seine Bahnen nahm. Ein Mann kam auf ihn zu gerannt und war dabei völlig aus dem Häuschen.
Es war der Kaufmann, der Greiler Walter, der keuchend zum Johann rief: „Komm mit! Du musst zum Ludwig! Sofort!“
„Ich bin ja eh schon am Weg ins Rathaus! Warum bist du noch nicht dort und rennst stattdessen wie ein aufgescheuchtes Huhn durch die Gegend?“, antwortete er dem lieben Walter.
Dieser rang nach seinem Sprint quer durch Schöttau noch immer nach seinem Atem und meinte: „Nein, nicht ins Rathaus, du sollst zum Ludwig nachhause kommen! Es ist etwas passiert!“
Unser Johann runzelte die Stirn, zündete sich ein tabakhaltiges Lungenfrühstück an und fragte: „Jetzt? Was soll denn jetzt in aller Herrgottsfrüh schon Großartiges passiert sein? Ist er in seinem Rausch wieder die Stiegen hinuntergestürzt?“
„Nein! Komm einfach mit, dann wirst du es schon sehen! Der Pfarrer ist auch schon dort und der Brenner Karl holt den Grafen.“, antwortete der Kaufmann und drängte auf den morgendlichen Spaziergang zum Anwesen des Bürgermeisters.
„Ja, ja, gehen wir!“, brummte der Johann.
Als die beiden dann knapp vor ihrem Ziel waren, trafen sie auf den Grafen und den Brenner Karl, die beide ebenfalls hurtig durch die nebligen Gassen schritten.
„Guten Morgen, Herr Graf! Guten Morgen, Karl!“, grüßte sie der Johann.
„Schauen wir einmal, ob es ein guter Morgen wird.“, meinte der feine Herr Graf mit strenger Miene.
Still war es und kalt, fürchterlich kalt, der Wind war bissig, eisige Nadelstiche quälten ihre hübschen Gesichter und in ihren Augen konnte man ihnen noch den Rausch des letzten Abends ansehen.
Die vier Männer traten ins Haus ein und bewegten sich Richtung Stube, dort warteten nämlich bereits der Ludwig und der Pfarrer. Es war eine schöne, alte Bauernstube mit viel Holz, viel Rauch und wenig Licht.
In der Türschwelle angekommen, schmiss der Bürgermeister dem illustren Quartett einen Zettel zur Begrüßung zu und brüllte wie von Sinnen: „Da schaut, was mir jemand an die Haustüre genagelt hat!“
Knallrot war sein Kopf, leicht grauslich anmutende Schweißperlen tröpfelten fröhlich von seinem Gesicht hinunter und aus seinen beiden Sehorganen schimmerte die Angst hervor. Eine alte Angst, eine längst vergessene und äußerst böse Angst. Ja, ihr Bürgermeister hatte schon einmal besser ausgesehen, wenn auch nicht viel.
Der Johann hob das zerknüllte Schmierpapier auf und las laut vor, was darauf in Großbuchstaben stand: „ICH SCHLITZ DICH AUF, DU FETTE SAU!“
Er reichte den vermeintlichen Liebesbrief dem Grafen weiter, zündete sich noch eine Tabakstange an und sagte mit einem verschmitzten Lächeln im Gesicht: „Ein Lausbubenstreich! Und darum veranstaltest du zu dieser frühen Stunde so ein Theater?“
„Jetzt setzt euch alle einmal nieder! Der gute Ludwig ist da einer anderen Meinung.“, sprach der Pfarrer mit seiner rauchigen Stimme.
Sein Blick war wieder streng, sehr streng, aber das war er immer.
Die vierköpfige Morgenvisite kam den Worten des geistlichen Vaters nach und nahm auf den schönen Holzstühlen bei Tisch Platz.
„Das war kein Lausbubenstreich!“, schrie der beleibte Stadtchef und wollte, mit wilden Gesten untermalt, seine Sicht der Dinge erläutern.
„So!“, fuhr der edle Graf dazwischen und meinte weiter: „Ludwig, du trinkst jetzt einmal einen Schnaps und beruhigst dich schön dabei! Was soll es denn sonst sein?“
Unser lieber Ludwig griff nach einer Flasche Sliwowitz, die zufälligerweise schon am Tisch stand und genehmigte sich einen relativ großzügigen Schluck daraus. Nachdem die wohltuende Spirituose in seinem Saumagen schwamm, der ihm ja drohte, aufgeschlitzt zu werden, schien er wieder etwas gechillter zu wirken und rief: „Er ist zurück! Er will uns alle holen!“
Der Pfarrer ließ sich nicht lumpen, machte selbstverständlich bei der lustigen Schnapsverkostung am frühen Morgen mit und nachdem auch er einen überdimensionalen Schluck Sliwowitz intus hatte, meinte er: „Unsinn, Ludwig! Wir haben das doch alles vorher schon besprochen! Der Johann hat ihn im Dezember erschossen, der Schrecken ist längst vorbei!“
Nun meldete sich einmal der Brenner Karl zu Wort: „Genau so ist es! Ich bin ja an dem Tag dabei gewesen, als ihn der Johann erledigt hat, ein glatter Blattschuss, wie man es von ihm gewohnt ist.“
Dann lachte er, schnappte sich ebenfalls die mittlerweile schon gut geleerte Flasche und ließ den herrlichen Brand der blauen Früchte genussvoll über seine Lippen quellen.
Der aufgewühlte Ludwig schüttelte nur seinen roten Kopf und sagte: „Aber genau so hat es doch aufgehört! Zuerst hat er uns den ganzen Sommer über die schönsten Böcke weggeschossen und als ihn der Pichler Wilhelm in die Falle getrieben hat und ihn dabei fast geschnappt hätte, hat er ihm ins Knie geschossen und lachend gemeint, er erschießt uns alle, wenn wir ihn weiterhin verfolgen. Der Johann, der Graf und ich werden die Ersten sein, hat er zum Pichler gesagt.“
Da musste der Johann kräftig mit seiner Faust auf den Tisch pochen und sprach dabei ernst: „Ludwig! Ich habe den Wilderer am 3. Dezember erschossen,