Die Sterne blinken so stark in dieser klaren Nacht, stärker als in Van Goghs Bild „Sternennacht über der Rhone“ vom September 1888, als ich in Venedig einen Bäcker begleitete. Einen kleinen, dicken, haarlosen Menschen, der den Teig mit Sägemehl streckte, seine Frau und Kinder als Bedienstete ansah, sich keinen glücklichen Tag im Leben gönnte und am dreiundfünfzigsten Tag seines vierzigjährigen Lebens verstarb.
Mel liegt auch darnieder, wie auf dem Totenbett, gerade langgestreckt auf dem Rücken, Füße überkreuzt, Hände auf der Brust. Seine Miene, ernst angestrengt, ein wie in Traurigkeit zusammengekniffener Mund. Normalerweise könnte er keine fünf Minuten auf dem Rücken liegen, dreht, wendet sich von einer auf die andere Seite. Doch sein Körper braucht Erholung, Ruhe, Aufmerksamkeit. Er ist erschöpft nach der Attacke. Kalter Schweiß steht ihm auf der Stirn, läuft über die Schläfen in das Kissen. Sein Gehirn macht sich Gedanken, bringt Mel aber nicht ins Träumen. Lässt es ihn schlafen ohne Angstkanonaden, dann ist er am Morgen bereit, alles zu vergessen. Erst Recht, wenn die Katze wieder auftaucht. Was so ein Tier in einem Menschen so alles auslöst! Kinderersatz sagen die Leute. Nach einem Kind hatte sich Mel noch nie gesehnt, auch noch nie nach einer Katze – nur gedacht hatte er an beides. Die gemeine Anna bot ihm doch tatsächlich einmal an, ein Kind für ihn zu gebären, wenn er dafür bezahle. „Du kannst eins haben, aber es kostet!“ Zwanzigtausend sollte er dafür geben. Ein Kind von Anna, mit der Aussicht, dass es so wird wie sie – ausgeschlossen für Mel. Einen Bruder hätte er gerne gehabt oder eine Schwester oder beides. Aber eigentlich war er doch am liebsten mit sich, schon allein wegen der Unkompliziertheit. Ob er die Katze vermisst, falls sie nicht erscheint?
Es lässt ihn träumen. Unter den weichen Augenlidern sind die rollenden Bewegungen der Augäpfel zu beobachten. Mel gibt die starre Liegung auf, wälzt sich in die Seitenlage, zieht die Knie vor die Brust, legt die gefalteten Hände neben das Gesicht. Einige Bilder ziehen durch seinen Kopf. Es ist die Katze! Mel schmunzelt und im Nu löst sie sich auf und er sieht sich im See schwimmen. Allerdings nicht im Wasser, sondern gerade so weit darüber, dass ab und zu sein Penis die Wasseroberfläche erspürt. Ob auf dem Rücken, dem Bauch, er flosselt sich mit den Füßen vorwärts. Schwerelos, als wenn der Wind ihn treiben würde. Wie sanft die Luft über dem See liegt, indem er sein Spiegelbild betrachten kann. Eine weiß-grünliche Gestalt, nackt, leicht wellenverzerrt, aber durchaus zu erkennen, dass sie vergnüglich ist. Erst dreht Mel eine Runde in Ufernähe, kreuzt dann mehrmals über den See, testet verschiedene Geschwindigkeiten und die Schwäne bestaunen ihn. Er schwimmfliegt nun dem Fischerufer zu, die ihn beide begeistert beklatschen. Die Hunde begleiten ihn freudig bellend. Mel amüsiert sich. Als er erneut gemächlich an den Fischers vorbeiziehen will, bespringt ihn die Frau mit einem mächtigen Satz, landet auf seinem Schoß, taucht ihn für einen Moment unter Wasser und er spürt, wie dabei sein Glied in sie eindringt. Wild sieht sie ihn an, packt seine Schultern mit festem Händegriff, reitet auf Mel wie ein kleiner Teufel. Die roten Haare umflammen ihr Gesicht. Sie jauchzt, kreischt in Leidenschaft. Ihre kräftigen Beckenstöße treiben sie wieder und wieder in den See, aus dem Mel sie mit großer Anstrengung herausfliegt. Wie eine Furie benimmt sich des Fischers Frau, beißt, kratzt in sexueller Gier. Die Spitzen ihrer kleinen Brüste glühen. Mel schwimmt in grenzenloser Wollust. Der erleichternde, fast schmerzliche Orgasmus lässt beide erschauern, bevor sie sich, in erschöpfter Zufriedenheit, auf ihn fallen lässt. Wie ein Kind liegt sie in seinen Armen, wein, beküsst ihn, rührend in ihrer Kleinheit. Mel ist sehr berührt. Spürt so sehr die samtene Haut. Ihre Tränen rinnen über seine Brust. Weich im Samengel pulsiert sein Glied in ihrer Scheide. Sie beugt sich seufzend zurück in die Lehne seiner Schenkel. Liebreiz im Blick auf Mel – da zerbirst in einer Explosion der Kopf der Fischerin. Sogleich erblickt Mel den Fischer am Ufer, der das Gewehr erneut in Anschlag bringt…. Da reißt Mel sich aus dem Traum.
Schwer atmend, mit erschreckten großen Augen liegt er im nassgeschwitzten Kissen, spürt noch seine Erektion, doch ist ihm nicht danach, sich zu lieben. So sehr nah ist noch der Eindruck des Traumes. Ergriffen schüttelt er ungläubig den Kopf vor Verwunderung und denkt kein Stück an den Infarkt. Langsam, in Andacht noch, erhebt Mel sich. Schwer steigt der Atem aus seiner Brust. Was der Traum wohl zu bedeuten hatte?, versucht er zu ergründen, während er mit tapsigen Schritten das Zimmer durchmisst, die Arme vor die Brust verschränkt.
Kapitel 6 Der Karpfenfreund
Hell ist der Tag geworden. Sechs Uhr morgens. Mel fühlt sich ausgeruht, hungrig, Traumbilder vor den Augen. Er will zum See, schwimmen, den Kopf lange im kühlen Wasser laben. Er entkleidet sich, erschlüpft den Bademantel, schlendert barfuß zum See. Kein Schwan ist zu sehen und staunend bemerkt er das Fehlen des Fischerzeltes, samt aller Utensilien am Ufer gegenüber. Er köpft vom Steg aus in das Wasser, taucht solange unter, wie seine Luft reicht, genießt mit geschlossenen Augen das entspannende Nass. Niemand ist in Sicht, so kann er nackt an Land, um den Fischerplatz zu inspizieren. Wäre nicht das vergilbte Rechteck des abgestorbenen Grases, auf dem das Zelt stand, so käme man nicht auf die Idee, dass hier jemand monatelang gelebt hat. Sogar die Feuerstelle ist verharkt. Keine Zigarettenkippen!
Mel sitzt auf diesem flachen, langen Stein, der halb ins Wasser ragt. Der eigentliche Stammsitz der Fischers. Er sieht das große, dunkle Fenster seines kleinen Hauses, meint, sich selbst darin zu erblicken: ein blasser Punkt, der ab und zu ein wenig wandert im Geviert. Traurigkeit ergreift ihn, Selbstmitleid. Er senkt den Kopf. Im grünen Wasser vor ihm schwebt regungslos ein Fisch, ein Riesenfisch – ein Karpfen. Der guckt ihm direkt ins Gesicht. „Du hast es gut!“, sagt Mel zu ihm. „Du kannst hören, sehen, riechen, fühlen. Musst nicht denken. Hast Ruhe im Gehirn!“ Der Fisch blubbert Luftblasen aus dem Maul, scheint Mel zu antworten und der spricht: „Mach keinen Blödsinn und fang an zu reden, dann werde ich nämlich vollends verrückt. Bist Du gar einer von denen, die der Fischer fing zum Fotografieren? Hat es wehgetan, als er dir den Haken zog?“ Der Fisch behält weiterhin die Ruhe. Nur seine Schwanzflosse ist in lascher Bewegung, das Gleichgewicht zu halten. Mel steigt behände in das Uferwasser, watet vorsichtig den Meter zu dem Fisch, der ihn anglotzt, sich doch nicht von der Stelle rührt. Nun beugt sich Mel, steckt den Kopf samt Oberkörper in den See, umarmt den Karpfen, hebt ihn aus dem Wasser, ohne Gegenwehr, steigt zurück zum Stein, setzt sich darauf, hält den Fisch vor seine Brust, wie er es beim Fischer gesehen hat. „Dass uns jetzt einer fotografieren würde“, wünscht sich Mel.
Der Fisch atmet wohl schwer durch seine Kiemen, hat sein rundes Maul weit aufgerissen, dennoch hält er still, als Mel ihn zu streicheln beginnt. Er hebt den Kopf, um Mel anzusehen. Der denkt: „Die Fischers hätten das sehen sollen!“. Ohne Angel fischte er dieses Prachtstück, schilt sich selbst gleich darauf, weil er den Gedanken hat, den Karpfen zu kochen. Der Fisch wird unruhig. Mel lässt ihn ins Wasser gleiten. Der Karpfen dreht eine Runde, steht alsdann wieder zur Stelle. Mel begibt sich ins Wasser, schwimmt an dem Fisch vorbei. Der zieht ihm nach.
Was ist mit ihm? Warum diese Zutraulichkeit? Wieso zu Mel? Erstaunt mich immer wieder, dieser Mensch. Schwimmt mit diesem dreißig Kilo Ungetüm! Fehlt bloß noch, dass die Schwäne dazu kommen und die Katze am Ufer wartet. Jetzt hält er sich sogar an der Rückenflosse fest, lässt sich ziehen. Was für ein Bild, wenn ich fotografieren könnte. Sie sind in der Mitte des Sees, da taucht nun der Fisch ab und Mel hinterher. Er denkt, der Karpfen will ihm etwas zeigen, doch dieser verschwindet im Gedunkel der Tiefe. Mel wartet eine Weile, stößt sich dann nach oben, als die Luft knapp wird. Er treibt in leichter Welligkeit dahin, in Rückenlage dem Ufer zu, sinniert Gedanken in die dicken Wattewolken, die genauso träge im Himmelblau schwimmen.