Walburga hob angewidert die Mundwinkel. Strähnen ihres hellblonden Haares fielen ihr ins Gesicht, als sie sich auf die Knie fallen ließ und Morten betrachtete. Seine Augen starrten leer in den Himmel. Er war blass, seine Lippen bereits leicht bläulich. Sie rüttelte an ihm, doch er rührte sich nicht.
11.
Die Welt war taub, tumb, so als hätte jemand Watte über alles gelegt.
Die Welt verschwamm vor seinen Augen immer wieder. Auch wenn er sich anstrengte, konnte er nicht sagen, was er sah und was nicht. Er konnte nicht sagen, was er fühlte und was nicht. Er konnte nicht sagen, wegen was er litt und wegen was nicht.
Er war müde. Erschöpft. Für einen Moment überlegte er, ob er seine Augen einfach schließen und schlafen sollte. Augenblick – waren sie schon zu? Sah er nur verschwommene Traumbilder?
Eine Person ließ sich neben ihm auf die Knie fallen und schob ihr Gesicht vor das seine. Ein ... Mädchen?
Er strengte sich an und versuchte, seinen Blick zu klären. Er wollte erkennen, wer da bei ihm war. Er kannte es, dieses Mädchen ... oder diese Frau?
Walburga. Wali. Nein. Doch. Nein? Doch?
Sein Blick verschwamm erneut.
Er sammelte seine verbliebene Kraft, was weiß Gott nicht viel war, und konzentrierte sich. Walburgas Gesicht nahm Gestalt an und löste sich dann wieder in bloße Schemen auf. Sie sagte etwas, doch es hörte sich an als wäre sie unter Wasser. Er wollte antworten, wollte fragen, was sie gesagt hatte, doch sein Mund, seine Lippen, seine Zunge bewegten sich keinen Zentimeter.
Die Frau sprach weiter mit ihm. Ihre Bewegungen wurden fordernder und er hatte das Gefühl, dass es etwas Wichtiges war, was sie ihm mitteilen wollte. Er hatte nur nicht den blassesten Schimmer, was das sein könnte.
Sie sah sich hektisch um und sprach wieder. Mit ihm? Mit jemand anderem? Hier war doch niemand außer ihnen beiden? Sie waren in einer Traumfrequenz, einer Zwischenebene, wo es keine Menschen gab. Nicht einmal sie beide gab es hier.
Das Gesicht wurde wieder klarer. Er kannte es. Es war ihm vertrauter als sein eigenes. Er hatte es so viele Male betrachtet. Sein Herz hüpfte und sein Herz brach und das in ein und derselben Bewegung. Er konnte spüren, wie die kleinen Splitter seinen Brustkorb fluteten. Darin niedergingen wie stummer Schnee im Winter.
Eine Träne rollte ihm über die Wange und dann noch eine. Er lächelte und weinte gleichzeitig und gab einen quietschenden, einen verzerrten Laut von sich, als er seinen Oberkörper anhob und seine zerrissene Lunge und zerbrochene Rippen noch mehr auseinander fielen.
Die Augen der Frau waren vor Mitleid und vor Trauer geweitet, dunkle Teller des Schmerzes.
Er fühlte, wie die Tränen über seine Mundwinkel rannen. Er lächelte noch immer. Er hob zitternd eine Hand. Es war beschwerlich und er wusste, dass er unmöglich noch die Kraft haben konnte, um sie tatsächlich immer weiter zu bewegen, doch in seinem Inneren brannte das Verlangen, sie zu berühren, so stark, dass sich seine Hand wie von selbst bewegte.
Er legte sie ihr liebevoll an die Wange, fühlte ihre warme Haut, ihr weiches Haar. Noch immer lächelte er und noch immer weinte er.
12.
Walburgas Wangen begannen zu glühen. Sie konnte nichts dagegen tun, das war eine unwillkürliche Reaktion auf Mortens Berührung.
Wie tot lag er unter dem Dämon. Sein Blick war vom nahen Tod getrübt und dennoch rührte er sich noch. Eine Erregung fuhr durch Walburgas Körper, als er seine Hand wie ein Liebender an ihre Wange legte.
„Er ist ihm Fieberwahn.“ Jacque schob Walburga aus dem Weg und zog Morten unter dem Dämon hervor.
Schnell und gekonnt begann er damit, Mortens Wunden zu verbinden. Walburga wusste, dass es notwendig war, ihm schnell zu helfen, doch Jacques forsche Art, mit der er ihr für gewöhnlich begegnete, störte sie.
„Wird er es schaffen?“, fragte Burkhart.
Jacque verzog skeptisch das Gesicht, während Burkhart und Walburga ihn erwartungsvoll beobachteten. Jacque fühlte nach Mortens Puls und sah von Sekunde zu Sekunde beunruhigter aus. Feine Schweißtropfen begannen sich auf seiner Stirn zu bilden.
„Sag schon, wird er es schaffen? Oder wird er...“, fragte Walburga.
Ihre Stimme klang spitzer, als sie beabsichtigt hatte.
Jacque beugte sich über Morten, sein Ohr war nahe an Mortens Mund. Seine Hände wanderten tiefer, über Mortens Brustkorb und blieben an der Stelle liegen, an der sich Mortens Herz befand.
Jacque schüttelte knapp den Kopf und kramte in einer alten, vergilbten Ledertasche, die neben ihm auf dem Boden lag. Walburga und Burkhart tauschten einen verängstigten Blick.
„Jetzt sag schon, was los ist!“, forderte Walburga.
„Der Dämon hat ordentlich zugeschlagen... Die Wunde an der Seite sieht ziemlich übel aus. Dieses Biest hat wahrscheinlich ein paar Knochen zertrümmert und ein oder zwei Organe in Mitleidenschaft gezogen... Die Lunge vermutlich. Er hat viel Blut verloren, kann kaum atmen und das Gift macht es auch nicht gerade besser. Um es kurz zu machen: Ja, er stirbt gerade.“ Walburga und Burkhart starrten ihn schockiert an. „Das Fieber ist auch schon ziemlich hoch...“, murmelte Jacque, während er weiter in seiner Tasche kramte.
Die Geschwister konnten den Blick kaum von ihm wenden.
„Und jetzt?“, fragte Burkhart verzagt.
Jacque holte zwei kleine Fläschchen, die jeweils mit einer Flüssigkeit gefüllt waren, und eine Spritze hervor. Er befüllte die Spritze mit beiden Elexieren, sodass in etwa ein Gleichgewicht entstand.
„Was ist das?“, fragte Burkhart neugierig.
Jacque warf ihm einen kurzen Seitenblick zu. „Das rote ist ein Heiltrank, der schwere Verletzungen eindämmt und die Zellen zur Regeneration anregt, das andere ist eine Essenz, die Menschen, die sich am Rande zum Tod befinden, zurück ins Leben holt. Beides überaus selten, die bekommt man nur bei einer merkwürdigen alten Frau, die weit im Süden wohnt.“
„Und das wirkt?“, wollte Burkhart wissen.
„Sehen wir mal...“, antwortete Jacque.
„Sehen wir mal?“, fragte Walburga empört. „Was soll das denn heißen?“
„Na ja, die Wahrscheinlichkeit liegt bei etwa 65 Prozent.“
„65 Prozent?“, entfuhr es Walburga, die fassungslos war. „65 Prozent?“, wiederholte sie.
„Eigentlich 63, aber wer wird schon kleinlich sein?“, antwortete Jacque.
Die beiden Geschwister starrten ihn beunruhigt an. Jacque fing sich. Er durfte sich von den beiden nicht ablenken lassen. Durch die ständige Fragerei verplemperten sie nur wichtige Zeit. Zeit, von der Morten nicht mehr viel hatte. Vielleicht gar nichts mehr... Er ärgerte sich über sich selbst, dass er so lange gebraucht hatte und rammte Morten die Spritze mit ordentlich Kraft in den Brustkorb, dort, wo sich sein Herz befand.
13.
Die Wahrscheinlichkeit, dass dabei etwas schief ging, war hoch. Sehr hoch. Wenn man zu viel Kraft aufwand, konnte man gefährliche Verletzungen herbeiführen. Wenn man zu wenig Kraft in den Stoß steckte, erreichte die Nadel nicht das Herz. Es war ein kleines Kunststück, den Muskel ordentlich zu treffen. Wenn man zu schief kam, verfehlte man ihn oder kam nicht tief genug. Und dann musste auch noch der Trank wirken...
Dieses Mal ging nichts schief. Nachdem Jacque Morten die Spritze ins Herz gerammt hatte, keuchte dieser und sog begierig