»Beatha. Beatha. BEATHA!«, ruft Cloe verzweifelt. Sie hofft, dass sie nicht zu spät reagiert hat. Die nächsten Augenblicke scheinen Stunden und nicht nur wenige Bruchteile einer Sekunde zu dauern. Zuerst bemerkt sie es nicht, aber dann sieht sie das goldene Gleißen, das von ihren Händen zu ihrer Mutter hinüberfließt. Es ist zwar sehr schwach, aber es ist vorhanden. Sie spürt ein feines Kribbeln. Warum wird das Licht nicht stärker? Die Elfe kneift die Lippen zusammen und versucht, mit großer Anstrengung, mehr Energie zu ihrer Mutter hinüberzupressen. Mit einem Mal wird es finster um sie herum und Cloe unterbricht hastig die Übertragung. Schwer atmend, wie nach einem langen Lauf, hockt sie am Boden und keucht heftig. Sie hat nicht aufgepasst und sich fast völlig verausgabt. Sofort überwältigt sie ein Hustenreiz und ihr ist übel. In der Luft schweben bläuliche Schwaden. Sie bezwingt den Reiz, beugt sich zu ihrer Mutter hinab und versucht ihren Puls am Hals zu ertasten. Hier ist die Haut nicht geschädigt, aber Cloe kann keinen feststellen, es scheint kein Lebenszeichen zu existieren! Aufgeregt hält sie ihren Kopf mit dem Ohr auf den Oberkörper Junas und horcht nach dem Herzschlag. Der verbrannte Stoff reizt ihre Atmung, trotzdem zieht sie den Kopf nicht zurück. Zuerst meint sie, nur das Rauschen ihres eigenen Blutes zu vernehmen, das unnatürlich laut zu sein scheint. Aber dann ist er zu hören, der Herzschlag ist vorhanden! Er ist zwar schwach und sehr unregelmäßig, aber er ist da! Die Elfe berührt ihre Mutter und nutzt den magischen Sprung. Sofort befinden sie sich in Junas Schlafzimmer, wo Cloe die immer noch bewusstlose Gestalt auf das Bett legt. Erneut horcht sie nach dem Puls und nickt dann zuversichtlich. Sie überträgt nochmals Lebensenergie und behandelt nun auch mit »Salvus« die Verletzungen an Händen und Gesicht. Sie zieht die verbrannten, fast verkohlten Kleidungsstücke vom Körper der Mutter und versorgt auch dort die vielen Verbrennungen, die sie erst jetzt bemerkt. Anschließend deckt sie ein kühles Leinentuch über Juna und rückt einen Stuhl neben das Bett, auf den sie sich setzt. Sie will sofort zur Stelle sein, wenn Hilfe notwendig werden sollte und wartet, dass ihre Mutter erwachen wird.
Grübelnd versucht sie, sich zusammenzureimen, was passiert sein mag. Erst jetzt dringen die Bilder aus dem Kellerraum zu ihr durch. Was bedeutet das? Die Regale mit Vorräten sind nicht mehr vorhanden. Die Gläser liegen zerbrochen am Boden und Reste eines stinkenden Qualms hängen ätzend in der Luft. Deshalb hatte sie auch diesen unerträglichen Hustenreiz! Sollte es dort gebrannt haben und Juna wollte das Feuer löschen? Dafür sprechen der Rauchgeruch ihrer Kleidungsfetzen und ihre Verbrennungen. Aber wodurch sollte im Keller ein Brand ausbrechen? Sie benutzen niemals eine Fackel, um etwas zu sehen, sondern Lichtkugeln. Außerdem könnte Juna eine Feuersbrunst sofort mit »Uisge« löschen, womit ein großer Wasserschwall heraufbeschworen wird. Weshalb sollte sie einem Feuer derart nahekommen, dass es ihre Kleidung erfassen kann? Was kann die Ursache gewesen sein? Obwohl es auf der Hand liegt, kommt Cloe nicht drauf.
Der verfluchte Drachengeist
Lange sitzt Cloe am Bett ihrer Mutter. Deren rasselnder Atem klingt flach und unregelmäßig. Manchmal befürchtet sie, dass der nächste Atemzug ausbleibt. Sie schreckt dann auf und beobachtet wie hypnotisiert den Brustkorb Junas. Er bewegt sich nicht! Was kann sie machen? Dann hebt er sich doch. Das Pfeifen, mit dem die Luft plötzlich eingesogen wird, klingt fast noch beängstigender als die Ruhe davor. Cloe sinkt trotzdem erleichtert auf den harten Stuhl zurück. Was hat ihre Mutter nur im Kellerraum gewollt? Wenn es dort gebrannt haben sollte, wodurch könnte das verursacht worden sein? Offenes Feuer als mögliche Ursache gibt es dort nicht! Wenn es jedoch im Keller nicht brannte, als ihre Mutter hingegangen ist, was hatte sie dann vor? Gab es vielleicht doch einen Angriff der Dubharan? Aber weshalb sieht es außer im Kellerraum völlig normal im Haus aus? Nein. Das kann sie als Grund ausschließen. Außerdem würde sich ihre Mom nicht in den Keller zurückziehen, um sich vor einem Angriff zu retten. Sie hätte sich an Ort und Stelle gewehrt, und das wäre zu erkennen gewesen. Sie würde in letzter Verzweiflung sogar den Drachengeist heraufbeschworen haben, der mit seinem Feueratem jeden Gegner …
Cloe stockt bei diesem Gedanken. Sie blickt ihrer Mutter in das verbrannte Gesicht, in dem sie bereits erste Heilungserfolge zu erkennen meint. Sollte sie im Keller versucht haben, den Drachengeist zu beschwören und zu kontrollieren? Dabei ist der letzte Versuch, bei dem Cloe anwesend war, doch fürchterlich danebengegangen. Wollte ihre Mutter es deswegen erneut probieren, einfach nur, um nicht klein beizugeben? Die Enge des Kellerraums beeinflusste die Kontrolle möglicherweise positiv. Das magische Wesen könnte sich dort nicht so schnell einem Lähmungszauber oder der Willensübernahme durch das Verbergen hinter Möbeln oder dem Entwischen in angrenzende Räume entziehen. Andererseits hat Cloe nicht den Eindruck gewonnen, dass sich der Drachengeist durch Verstecken einer Unterwerfung des Willens widersetzen würde. Nein. Diese Kreatur kennt kein Heil in der Flucht, es greift stattdessen an und setzt seinen tödlichen Feueratem ein.
»Das muss es gewesen sein«, ist die Elfe überzeugt. »Mom hat versucht, den Drachen zu bezwingen, und wurde dabei von dessen Feuer überwältigt.« Eine Träne läuft über das Gesicht der Tochter. Sie wischt sie schnell fort. Sie will nicht trauern, ihre Mutter muss, nein, wird genesen! In diesem Moment kommt ihr ein anderer Gedanke. »Wo mag der Drachengeist jetzt sein? Wurde er dadurch aufgelöst, dass Mom ohnmächtig wurde?« Dann hätte er seine Beschwörung sozusagen selbst aufgehoben. Oder gibt es einen anderen Grund, weshalb er nicht im Keller zu sehen war? Cloe und Juna versuchten bisher nicht, herauszubekommen, wie lange eines der magischen Wesen existent bleiben würde, wenn sie den Zauber nicht mit »Inhibeo« aufheben. Plötzlich fällt der jungen Elfe noch eine andere Möglichkeit ein. Der Feueratem hatte beim ersten Versuch der Kontrollübernahme durch Juna das Buch teilweise verbrannt. Was ist, wenn das Buch jetzt völlig zerstört wurde, so wie die Regale im Keller? Ihre Mutter muss das Buch bei sich getragen haben, sonst hätte sie die Kreatur nicht heraufbeschwören können. Cloe erinnert sich aber nicht, es in dem unteren Raum gesehen zu haben.
»Mom könnte es auf eine kleinere Größe reduziert und in einer Tasche ihres Gewandes bei sich getragen haben!« Cloe springt auf und untersucht die größtenteils verbrannten Reste der Kleidung, die sie vorhin achtlos auf einen Haufen geworfen hat. Sie sucht sehr gründlich, findet das Buch jedoch nicht. »Sollte der Drachengeist deshalb verschwunden sein, weil das Buch nicht mehr existiert?« Dieser Gedanke ist bestürzend, da sich die Elfe sozusagen mit den Fähigkeiten des Greifs angefreundet hatte. Andererseits hätte der Fall auch etwas Positives. Ihre Mom käme nicht erneut auf die Idee, dieses gefährliche Wesen für ihre Zwecke zu nutzen. Cloe betrachtet im Licht der von ihr hervorgerufenen Lichtkugel Junas Gesicht. Hinter den geschlossenen Lidern bewegen sich die Augen unstet hin und her. Was mag sie wohl träumen? Von ihren Eltern oder ihrem Mann, die alle durch den Feueratem eines Drachen umkamen? Kämpft sie möglicherweise gerade mit einem derartigen Lindwurm? Die Elfe schüttelt den Kopf. Sie wird es erfahren, wenn es Juna wieder besser geht und setzt sich auf den Stuhl. Obwohl die Nacht mittlerweile weit fortgeschritten ist, verspürt sie keine Müdigkeit.
Doch plötzlich schreckt sie auf. Sollte sie vor Erschöpfung kurz eingeschlafen sein? Was ist es nur, was sie stört? Irgendetwas hat sich geändert! Es ist beunruhigend still. Das Pfeifen des Atems fehlt! Wie lange dauert der Atemaussetzer wohl schon? Cloe springt auf. Der Brustkorb hebt sich nicht! Sie breitet die Hände über ihre Mutter.
»BEATHA! BEATHA! B E A T H A!«, ruft sie verzweifelt, doch das goldene Gleißen stellt sich nicht ein! Sie packt ihre Mutter an den Schultern und schüttelt sie. »Atme! Wach auf!«, ruft sie verzweifelt, während ihr Tränen übers Gesicht laufen. Doch Juna reagiert nicht. Cloe wirft sich über sie. »Nein! Mom. Bleib bei mir!«, schluchzt sie verzweifelt. Obwohl sie weiß, dass es vergeblich sein wird, versucht sie immer wieder, Lebensenergie zu übertragen. Als sich der Morgen durch einen leisen Schimmer ankündigt, herrscht in Cloe tiefste Nacht. Sie hört weder das erste Zwitschern der frühen Vögel, noch achtet sie auf die Sonnenstrahlen, die das Zimmer bereits mit einem goldgelben Licht erhellen. Dann erhebt sie sich erstaunt, sollte jetzt doch noch Lebensenergie übertragen werden? Dann erkennt sie ihren Irrtum, es ist nur das Sonnenlicht. Sie streichelt verzweifelt das verbrannte Antlitz ihrer Mutter, fällt auf die Knie und vergräbt ihr Gesicht an deren Schulter.
»Warum? Warum?«, jagt