„Ich kann es mir aber nicht länger leisten, gegen mich zu kämpfen, da ich sonst alles verliere, was ich besitze!“, seufzte Vincent und senkte seinen Blick. Das Gespräch mit Monika hatte ihn verändert. Er war nicht länger der sorglose junge Mann, der unbeschwert in den Tag hineinmalte. Er war zu Vincent, dem Verantwortungsbewussten geworden, der eingesehen hatte, dass er sich beruflich verändern musste, wenn er sich seiner Zukunft stellen wollte.
„Wenn du mit dem Malen aufhörst, wirst du todunglücklich werden“, warnte sie eindringlich.
„Wenn nicht, werde ich verhungern!“, erwiderte er geknickt.
„Märchen sind dein Leben!“, versuchte sie ihn zu überzeugen.
„Von wegen, mein Leben!“, reagierte Vincent gereizt und warf ihr einen verbitterten Blick zu. Es ärgerte ihn, dass sie Recht hatte, ohne ihn wirklich zu kennen. Seinem Gefühl nach wusste er, dass es nicht richtig war, was er vorhatte. Aber sein Verstand befahl ihm, sich mit Monikas Angebot anzufreunden und neue Wege zu gehen. Daher meinte er verstockt: „Ich kann auch ohne Märchenbilder zu malen leben!“
„Kannst du nicht“, widersprach sie und konnte ihre Enttäuschung nicht länger vor ihm verbergen. „Hör doch in dich hinein, Vince! Märchen sind der Schlüssel zu deinem Glück. Sie sind die Sprache deines Herzens und die Nahrung deines Verstandes!“
„Davon kann mein Magen nicht satt werden!“
„Dein Magen vielleicht nicht, aber deine Seele“, erwiderte sie unnachgiebig. „Dort bleiben die Märchen kleben und bereichern dein Leben!“
„Pah, erleichtern mein Leben!“, verzog der junge Mann skeptisch sein Gesicht. „Und wieso merk’ ich nichts davon?“
„Weil du blind und nicht mehr Herr deiner selbst bist!“, erwiderte sie traurig.
„Genau deshalb habe ich beschlossen, wieder mein eigener Herr zu werden und meine Abenteuer als Künstler aufzugeben, um mich nach etwas“, er hielt kurz inne, „Einträglicherem umzusehen.“
„Mehr Geld führt nicht automatisch zu mehr Zufriedenheit, Vincent!“, versuchte sie ihm klar zu machen, egal wie sinnlos der Versuch auch sein mochte. „Das ständige Streben nach mehr macht dich auf die Dauer nicht glücklich, sondern lässt dich innerlich verkümmern und höhlt dich mit der Zeit nur aus. Ein Mensch ohne Ideale und Werte verliert den Boden unter seinen Füßen und ertrinkt im Sumpf der Sinnlosigkeit.“
Die Hartnäckigkeit und das Feuer, mit der das Mädchen argumentierte, gefielen ihm. Und noch mehr ihre Augen, die in der milden Herbstsonne wie zwei goldene Sterne leuchteten. Daher widerstrebte es ihm zutiefst, ihre Ideale mit dem Schwert der Realität zerstören zu müssen. Und einen Moment lang fühlte er sich wie jemand, der gleich ein wunderschönes, kostbares Bild vernichteten würde. Aber es blieb ihm nichts anderes übrig. Er musste ihr sagen, dass er sie nicht malen konnte, da seine Fähigkeiten als Künstler zu stümperhaft waren. Er holte tief Luft, die Worte lagen bereits auf seiner Zunge und – er konnte es nicht. Weil er ein Feigling war und davon abgesehen sein Stolz ein solches Eingeständnis nicht zuließ. Anstatt dessen brummte er verdrossen: „Bevor ich nach mehr Geld strebe, muss ich erst mal welches besitzen. Leider hat die Märchenmalerei bis jetzt nicht viel davon eingebracht!“
Seine Besucherin nahm die unterschwellige Gereiztheit in seiner Stimme wohl wahr, und wenn ihr auch nicht gefiel, was sie hörte, hätte sie doch besser auf die Worte achten sollen, die er nicht gesagt hatte.
„Sie hat dir sehr viel eingebracht“, widersprach sie ihm sanft. „Du willst es nur nicht sehen!“
„Ich will schon!“, sprang Vincent ärgerlich auf, aber da gibt es nichts zu sehen, weil Märchen Kinderkram, Lügengespinste und Schonräume für lebensfremde Träumer sind“, hörte er sich sagen und die Tatsache, dass er wie Monika klang, machte ihn beinahe krank.
„Das glaubst du genauso wenig wie ich!“, erhob sich seine Besucherin ebenfalls. „Märchen sind keine Schonräume für lebensfremde Träumer“, fügte sie überzeugt hinzu und ihre Miene drückte helle Empörung aus. Einen endlosen Augenblick lang standen der Maler und das Mädchen einander gegenüber und keiner wich dem lodernden Blick des anderen aus.
„Sie umgehen weder Schwierigkeiten noch Konflikte“, begann sie energisch. „Vielmehr zeigen sie, wie man mit Mut und Ausdauer, Hilfsbereitschaft und Rücksicht, Herz und Hirn seine Ziele erreicht und sein Leben zu einem … besseren macht. Der Mensch braucht Wegweiser, die ihm helfen, einen Sinn in seinem Tun zu finden, und Pfeiler, die ihn unterstützen, im Chaos seiner Gedanken und Gefühle Ordnung zu schaffen.“
„Als ob Märchen dazu in der Lage wären!“, meinte der Maler trotzig, und sein abweisender Blick ließ sie verstummen. Es entstand wieder ein drückendes Schweigen und er sah, wie abermals Tränen in ihren Augen schimmerten.
„Aber das sind sie!“, flüsterte sie verzweifelt. „Weil es dort und nur dort eine klare Trennung zwischen gut und böse, gerecht und ungerecht, richtig und falsch gibt. Das vermittelt Sicherheit und stärkt das Vertrauen in uns selbst und letztendlich auch ins Leben. Hör doch in dich hinein, Vincent, und vertrau auf deine Fähigkeiten!“
Wieder musste er ihr Recht geben, und das machte ihn nur noch wütender. Der Künstler wider Willen fühlte sich elend. Auf seinen Augenlidern schienen schwere Bleigewichte zu liegen, und er wünschte sich, an Ort und Stelle seinem Bedürfnis nach Schlaf nachgeben zu können, nur um gleich wieder zu erwachen und festzustellen, dass dies alles nur ein böser Traum war. Als er an sein Gespräch mit Monika dachte, wurde seine Gesichtsmiene noch finsterer. Was sie wohl dazu sagen würde, wenn er weiter der blieb, der er war? Vincent, der sympathische, aber leider erfolglose Maler von nebenan. Der junge Mann stieß hörbar die Luft aus. Er fühlte sich wie ein Tier in der Falle, ohne Hoffnung auf Entkommen. „Es ist zwecklos“, wisperte er und richtete wieder seine ganze Aufmerksamkeit auf das Mädchen. „Ich kann dich nicht malen, weil ich mit der Malerei aufgehört habe!“
Nun war es herausgewürgt und wie immer sie darauf reagieren mochte, würde er seine Meinung nicht ändern, egal wie hübsch sie war, egal wie flehentlich sie ihn bat. Das Mädchen rührte sich nicht. Wie zur Säule erstarrt, stand es da und ließ seinen Blick kurz in die Ferne schweifen. Doch was seine namenlose Besucherin sah, gefiel ihr nicht. Ihr Blick kehrte zu Vincent zurück. Sie wartete ein paar Augenblicke und hoffte, dass er seine Meinung ändern würde, doch Vincent tat ihr diesen Gefallen nicht. Beide sahen sich stumm an und schienen im Blick des anderen zu versteinern.
„Dann gehe ich jetzt wohl besser“, meinte sie nach außen hin gefasst, obwohl innerlich bereits die Tränen flossen. Mit einem Gefühl der totalen Niederlage senkte sie ihren Blick, da sie unbedingt verhindern wollte, dass er merkte, wie sehr sie seine Abweisung traf, doch dann schien sie es sich noch einmal zu überlegen und ihren Kopf schoss stolz nach oben.
„Märchen sind ein Geschenk, Vincent“, flüsterte sie kaum hörbar. Sie sind das größte Geschenk, das sich die Menschen gemacht haben; sie sind ihr Fenster zum Glück!“
Mit diesen Worten verließ sie ihn, und der junge Mann sah ihr mit hängenden Schultern nach. Er hatte weder eine Ahnung, in welch großer Gefahr sie sich befand noch welch furchtbaren Ängsten und Nöten sie ausgesetzt war.
„Märchen sind dein Leben!“, hallte ihre Stimme gespenstisch in seinem Kopf wider, während er krachend die Tür zu seinem Atelier ins Schloss fallen ließ. Er war müde und fühlte sich schlecht.
„Ich schulde ihr nichts!“, sprach er zu sich selbst. „Ich kenne sie nicht einmal!“ Doch bei dem Gedanken an das Mädchen mit den goldenen Augen zog sich sein Herz schmerzhaft zusammen, da er ein schlechtes Gewissen hatte und nur zu gut wusste, dass er sich seiner Besucherin gegenüber nicht richtig verhalten hatte. Er hätte zumindest versuchen können, sie zu malen. Oder so tun können, als würde er es versuchen. Dann hätte sie bestimmt schnell eingesehen, dass er nicht der geniale Künstler war, für den sie ihn hielt. Als Vincent sein Atelier betrat, sah er sich geistesabwesend um, konnte jedoch nichts Auffälliges entdecken. Alles