Unterdessen hielt Huf Farballa unbeirrt auf die Blauen Erdhügel zu, die sich im Südwesten des Landes befanden. Das Regenbogenpferd flog eilends über breite Waldstreifen, hinter denen sich grüne Felder und Blumenmeere in den schillerndsten Farben erstreckten. Harmonisch in die Landschaft unter ihnen eingebettet, verliefen zwei breite Bahnen, die durch einen Mittelstreifen, der aus zu kunstvollen Skulpturen und seltsamen Tieren geschnittenen Hecken und kleinen Bäumen bestand, voneinander getrennt waren. Parallel dazu wiegten sich sanft die leisen Wellen eines malerischen Flüsschens, das wie die Straße cyanblau im Sonnenlicht schimmerte. Vincent war von der lieblichen Landschaft mehr als angetan und verspürte augenblicklich den Wunsch, sich ein wenig die Beine zu vertreten, um die pittoreske Idylle aus nächster Nähe betrachten zu können.
„Ich würde gern auf der Straße dort unten ein bisschen spazieren gehen. Ab liebsten vom Anfang bis zu ihrem Ende“, teilte er seinem Zeichenblock hinter ihm mit.
„Glaube ich nicht“, lächelte Barock wissend, „da es mehrere Jahre dauert, um sie abzulaufen. Sei froh, dass du das nicht zu Fuß tun musst, sondern ein Regenbogenpferd unter dir hast. Die Cyanstraße ist übrigens eine der neun Hauptstraßen, die den Süden mit dem Norden des Landes verbinden, und gehört zu den wenigen, die sich noch in einem halbwegs guten Zustand befinden.“
„Wohin führt diese Straße?“, erkundigte sich der Maler neugierig.
„Nach Belle Couleur, unserer Hauptstadt“, antwortete Barock und zeigte nach Süden.
„Belle Couleur“, flüsterte der junge Mann und stellte sich eine farbenprächtig Stadt mit kunstvollen Häusern und Türmen, malerischen Gassen und Bogengängen vor. „Klingt schön!“
„Belle Couleur ist schön. Wunderschön“, erwiderte der Zeichenblock mit einem verträumten Blick. „Obwohl auch unsere Hauptstadt unter Monotonias ständigen Angriffen zu leiden hat“, fügte er verbittert hinzu. „Immer wieder versuchen ihre Grauschatten und Farbenfresser, Belle Couleur unter ihre Kontrolle zu bringen, doch bisher ist es Oborona immer geglückt, ihre Attacken abzuwehren und eine feindliche Übernahme zu verhindern.“
„Dieser Oborona ist bestimmt ein sehr tüchtiger und tapferer Mann“, erwiderte Vincent, worauf der Zeichenblock seinen Kopf schüttelte. „Oborona ist eine Frau, sehr energisch und entschieden“, klärte Barock den Maler auf. „Sie ist Statthalterin von Belle Couleur und lässt sich eher in einem Fass Farbe ertränken, als Koloriens Hauptstadt der Grauen Hexe und ihrer Sippe zu überlassen.“
„Verstehe!“, erwiderte der junge Mann.
„Wir sind gleich da!“, unterbrach Huf Farballa Vincents Gespräch mit Barock. „Vor uns liegen die Blauen Erdhügel“, worauf die Köpfe seiner Fluggäste beinahe automatisch nach vorn gedreht wurden, um einen Blick auf die berühmten Erdbuckel zu erhaschen. Tatsächlich entdeckte der Maler dreizehn große, gleich hohe Hügel am Boden, die durch niedrige Wälle miteinander verbunden waren und an das Bild eines schlafenden Riesen mit ausgebreiteten Armen erinnerten. Die Erdlagen, welche die Hügel bildeten, schimmerten in verschiedenen Blauschattierungen von blassblau über hell-, kobalt- und mitternachtsblau bis hin zu bläulich-lila und wurden von sonnenblumenartigen Pflanzen umrahmt, deren gelbe Blütenköpfe einen reizvollen Kontrast zum Blau der Erdhügel bildeten. Ein paar Augeblicke später setzte Huf routiniert zur Landung an. Nachdem das Regenbogenpferd Vincent und seinen Gefährten signalisiert hatte abzusitzen, glitt der junge Mann schnell von dessen Rücken und spürte augenblicklich eine magische Anziehungskraft, die von den Aufschüttungen ausging und greifbar in der Luft lag. Allzu gerne hätte er ein Blatt Papier in die Hand genommen und die märchenhafte Atmosphäre um ihn herum mit Pinsel und Farbe eingefangen. Anstatt dessen bückte er sich, nahm ein wenig Erde in die Hand und ließ sie langsam durch seine Finger gleiten.
„Echt blau“, flüsterte er ungläubig und starrte mit offenem Mund auf seine Hand.
„Blau steht für die Treue, mit der Kolorien zur Hüterin der Farben steht“, teilte Huf dem Märchenmaler mit. „Es gibt eine Weissagung, die besagt, dass sich der Blaue Riese erheben wird, wenn Farbenfeins Leben in Gefahr ist.“
„Der blaue Riese hat sich bereits erhoben!“, hörte Vincent plötzlich hinter sich eine Stimme. Doch als er sich umdrehte, konnte er niemanden entdecken. Er spürte lediglich einen Luftzug, offenbar von jemandem erzeugt, der sich gerade in Luft aufgelöst hatte.
„Was war das?“, sah Vincent ängstlich in die Gesichter seiner Freunde.
„Ein Federmännchen, kein Grund zur Sorge“, wurde er von Pilobolus beruhigt. „Sie sind harmlos. Trotzdem rate ich dir, mir dicht auf den Borsten bleiben, da man nie so genau weiß, was einem im nächsten Augenblick erwartet.“
„Dafür weiß ich es und zwar zwei hinter deinen Stiel!“, kündigte eine erboste Sonnenblume an, „wenn du deine Fransen nicht sofort von meinen Wurzeln herunterbewegst und mir aus der Sonne gehst!“
„Sind wir heute aber empfindlich!“, trat der Malpinsel schnell zur Seite.
„Wieso habe ich das Federmännchen nichtgesehen?“, wollte der Maler wissen, nachdem er kurz einen verwunderten Blick auf die sprechende Blume geworfen hatte.
„Weil diese Dinger schneller durch die Gegend hüpfen, als du schauen kannst!“, schmunzelte Pilobolus. „Leider gibt es nicht mehr viele von ihnen in Kolorien und das verdanken wir ausschließlich der Grauen Hexe.“
Vincent musste unwillkürlich an Farbenfein denken und senkte, von Schuldgefühlen geplagt, seinen Blick. Nur ein paar Pinselstriche hätte es gebraucht, um sie aus ihrer Gefangenschaft zu befreien, doch anstatt sie zu malen, hatte er sie fortgeschickt und ihrem Schicksal überlassen. Das war unverzeihlich, worauf seine Schultern augenblicklich nach unten sanken.
„Bekümmert dich etwas, Vincent?“, hörte der Märchenmaler das Huf Farballa fragen, doch der junge Mann gab keine Antwort, denn das Gewicht seiner Schuld lastete erdrückend auf ihm. Zögernd versuchte er sich aufzurichten, als unvermittelt die Erde unter ihm nachließ und er blitzartig im Boden versank. In aufkommender Panik bot Vincent seine ganze Kraft auf, um sich an irgendetwas festzuhalten. Leider umsonst. Er vernahm noch einen schrillen Warnschrei seiner Zeichenfeder, dann verschwand er vor den entsetzten Augen seiner Gefährten. Der junge Mann sank tief und tiefer, ohne zu wissen, wohin. Als er schließlich wieder festen Boden unter seinen Füßen verspürte, war es um ihn herum dunkel. Und still. Unheimlich still. Ein langer Augenblick verstrich, und Vincent konnte nur sein Herz vor Angst pochen hören. Doch für den Moment blieb ihm nichts anderes übrig als abzuwarten. Offensichtlich befand er sich in einem unterirdischen Gang, stand mit dem Rücken zur Wand und holte erst einmal Luft. Allmählich gewöhnten sich seine Augen an die Dunkelheit, und er glaubte Umrisse zu erkennen.
„?ad nned riw nebah new, aN“, vernahm er eine Stimme.
„?nessiw sad chi llos rehoW“, gab eine andere zurück.
Vincent drehte seinen Kopf zur Seite und suchte in der Dunkelheit nach den Besitzern der Stimmen. Erschrocken entdeckte er in seiner unmittelbaren Nähe zwei dunkle Silhouetten und blickte in zwei behaarte Gesichter mit funkelnden Augen.
„!ollaH“, wurde er von einem grünen Farbhörnchen begrüßt.
„Spanier?“, erkundigte sich Vincent vorsichtig.
„nieN“, entgegnete das Hörnchen.
„Holländer?“, wagte der Märchenmaler einen zweiten Versuch.
„!schlaf redeiw nohcS“
Da Vincent eine solche Sprache nie zuvor in seinem Leben gehört hatte, fiel es ihm schwer, sie einem Land zuzuordnen. Davon abgesehen, hatte er noch nie jemanden mit Schnauze im Gesicht reden hören. Plötzlich fiel es ihm wie Schuppen von den Augen.
„Ihr seid die Braf-Hörnchen mit «f», erhellte sich seine Miene, und er gewahrte im Halbdunkel, wie die beiden Tierchen ihre Köpfe zusammensteckten.
„?sad