Amalie sah nicht mehr – heiß aufquellende Tränen füllten ihr den Blick, und als sich Sidonie von dem Krankenbett des Kindes aufrichtete, die Hand nach ihr ausstreckte und sie zu dem Lager des armen Kleinen zog, der in einem aus rohen Brettern zusammengenagelten Gestell, aber auf weichen, wohl der Mutter entzogenen Kissen sein Bettchen hatte, da brach die Kraft, die sie sich zugetraut, in einem wilden Tränenstrom sich Bahn. Neben dem Kind niedersinkend, barg sie ihr Haupt an dem Bett und schluchzte laut.
Sidonie wollte sie aufrichten – wollte sich und den Gatten entschuldigen – wollte l ü g e n, daß sie sich glücklich und zufrieden fühle hier in der freilich einsamen, ungewohnten Welt, aber – sie vermochte es nicht mehr. Das jahrelang ertragene, bestandene Weh hielt jeden Ton, jedes Wort zurück, und bleich, zitternd, mit tränenlosem, stieren Blick stand sie neben der Knieenden und schaute still und regungslos zu Boden.
Hundegebell vor dem Haus und Pferdegestampfe unterbrach die peinlich werdende Stille. Amalie richtete sich rasch und wie erschreckt empor, und auch Sidonie trat zur Tür und öffnete diese, um den rückkehrenden Gatten zu begrüßen.
«Hallo the house!» rief dieser schon von weitem die eigene Wohnung an. «Heda, Dony, h u p i h ! Komm heraus, Schatz, und sieh, was ich Dir mitgebracht!»
Bis dicht vor die Tür sprengte dabei, von der Hand des Reiters gelenkt, das Tier, bis es mit den Hufen die Schwelle betrat und mit dem klugen Kopf die Tür zu öffnen suchte, in der jetzt Sidonie erschien und, vor der Nähe des Pferdes erschreckend, angstvoll den Vater bat, des eigenen Kindes mit dem Lärm zu schonen.
«Ah, papperlapapp», lachte aber der Mann, «wird ihm nicht gleich ‘was schaden – sieh hier, was ich Dir mitgebracht.» Und in seinen Armen wand sich, mit den gebundenen Pranken vergebens arbeitend, um von den Banden, die ihn zusammenschnürten, loszukommen, ein junger Bär, und die Hunde heulten und kläfften und schnappten am Pferd hinauf, um die ihnen vorenthaltene Beute zu ergreifen und zu zerreißen.
«Ruhe, Ihr Bestien!» lachte dabei der Jäger vom Pferd herunter. «Ruhe und nieder mit Euch Kanaillen – Dony, nimm einmal ein paar Brände heraus und wirf sie zwischen die Satanstiere, sie ziehen mich sonst wahrhaftig noch vom Pferd hinunter. – Zurück mit Euch, Watch und Bull – warte, Bestie, wenn ich hinunterkomme, dreh’ ich Dir den Hals um für den Biß.»
«Das Kind ist kränker geworden, als es war, Olnitzki», bat die Frau, «geh nur wenigstens mit dem furchtbaren Lärm hier von der Tür weg, es stirbt mir ja vor Angst und Schreck.»
«Ah bah – das ist zäh und stirbt nicht», sagte der Mann finster, «sonst wären wir den Jammer lange los», und hinunterspringend vom Pferd, das er sich selber überließ, während er den jungen Bär mit riesiger Kraft in den linken Arm gepreßt hielt, führte er mit dem scharfen Büchsenkolben wohlgezielte Stöße gegen die heranpressenden Hunde, die sie heulend in sichere Entfernung zurücktrieben. Den Gefangenen dann zu Boden werfend, nahm er eine Kette herunter, die an einem der äußeren Balken des Hauses hing, befestigte sie mit einem starken Ledergurt um den Hals des Tieres, das er zu einem der nächsten Bäume trug, schlug das andere Ende der Kette um einen der unteren Äste, und die Banden dann rasch mit dem Messer lösend, sprang er zurück und rief lachend:
«So, mein Bursche, nun wehre Dich selber Deiner Haut! Hupih! Ihr Rüden – hupih – jetzt tut, was Ihr könnt.»
Und mit dem Jagdruf warf sich die Meute in toller Wut gegen den kaum entfesselten jungen Bären, und hätte ihn zerrissen, wäre dieser nicht rasch und gewandt, seine teilweise Freiheit benutzend, an dem Stamm, an den ihn die Kette gefesselt hielt, emporgeklettert. Dort setzte er sich dann auf dem untersten Aste fest, und hieb mit zurückgelegten Ohren und fletschenden Zähnen nach den gierig und wild gegen ihn aufspringenden Hunden hinunter.
«Hahahaha, das ist göttlich, das ist kostbar!» schrie und jubelte dabei der Pole. «Hupih, meine Burschen, hupih! Brav, Watch, beinah’ hoch genug, aber der schwarze Bursche teilt auch dafür böse Ohrfeigen aus – hupih – hahahaha! Aber, Wetter noch einmal», unterbrach er sich dabei, «wie er mich selber zugerichtet hat – Dony, Dony, da wirst Du tüchtig mit Nadel und Zwirn und Heftpflaster nachhelfen müssen, um alle die verschiedenen Risse an Leib und Jacke wieder in Ordnung zu bringen – hallo – wen haben wir h i e r ? »
Der überraschte Ausruf galt der Fremden, die er nicht wiedererkannte und in seiner Hütte fand, als er die Schwelle betrat. «Wie geht’s, Madame? Weshalb setzen Sie sich nicht? Hier ist ja noch ein Stuhl – wohl eine neue Nachbarin von uns?»
«Sie kennen mich nicht mehr, Graf Olnitzki?» sagte Amalie aber auf die englische Anrede in deutscher Sprache. «Ist mein Gesicht Ihnen in den zehn Jahren so gänzlich fremd geworden?»
«Alle Wetter!» rief der Pole, überrascht einen Schritt zurücktretend und die Tür hinter sich aufstoßend, um mehr Licht in den inneren, fensterlosen Raum zu bekommen. «Ist das nicht – ist das nicht Fräulein Amalie, meine sehr verehrte Schwägerin? Aber, zum Teufel, Schwägerin, wo kommen S i e auf einmal her, hier mitten in den Wald hinein? – Nun, einerlei, das erzählen Sie mir nachher; jetzt seien Sie uns herzlich willkommen und machen Sie es sich so bequem, wie – nun, wie es die Umstände gerade erlauben. Es ist gerade nicht v e r d a m m t bequem bei uns, läßt sich aber doch aushalten und genügt für den Wald. Gegen die Indianer leben wir noch immer wie die Fürsten46.»
Er hatte ihr dabei die rechte Hand entgegengestreckt, zog sie aber lachend zurück, denn sie war mit Blut bedeckt.
«Um Gotteswillen, wie siehst Du aus, Olnitzki?» rief aber auch in demselben Augenblick die Frau. «Zerrissen und blutig am ganzen Körper; was hast Du gemacht?»
«Du hättest dabei sein sollen, Dony», lachte der Pole, seine Mütze in die Ecke werfend und die ausgestreckten Arme, die Zeugnis des bestandenen Kampfes gaben, von sich haltend. «Wie ich schon auf dem Heimweg, mein altes Jagdunglück verwünschend, bin und drüben an der brushy slew vorüber halte, sehe ich plötzlich eine alte Bärin mit einem Jungen bei sich, die mir die Hunde vorher auch nicht im Mindesten gespürt oder bezeichnet hatten, aus einem kleinen Schilfbruch aufstehen und das Weite suchen. Jawohl, Weite, wir mit einem Hupih und Hurra hinterher wie die wilde Jagd, und wenn es die Alte auch noch eine Weile ausgehalten hätte, konnte das Junge doch bald nicht mehr fort und bäumte auf. Hätt’ ich schon ‘was geschossen gehabt, wär’s mir nicht eingefallen, mit dem Kalbfleisch fürlieb zu nehmen, so aber dacht’ ich, das Ding auf dem Baum wär’ sicherer wie die magere Alte im Busch drin, warf mein Pferd herum, sprang herunter und hätt’ es nun bequem niederschießen können. Aber so leichte Jagd wär’ ein Schimpf gewesen, und die Büchse deshalb unter den Baum legend, mit meinem Sattelseil umgehangen, klettre ich hinauf zu dem kratzenden, schlagenden Ding, pack’ es bei einer Hinterpranke und will es eben, während es ein mörderisches Geschrei ausstößt, mit mir herunterziehen auf den Boden, als ich die Büsche wieder brechen und krachen höre, und straf’ mich Gott, wie ich mich umsehe, kommt die Alte mit zurückgelegten Ohren und weit offenem, rotglühenden Rachen – aber zum Donnerwetter, Ruhe da, Ihr Bestien, man kann ja sein eigen Wort nicht verstehen vor der Teufelsbrut – kommt die Alte wie ein losgelassener Satan wieder durch den Wald gesaust und auf mich zu. Das Junge loslassen und am Stamm herunter nach meiner Büchse fahren, war im Nu geschehen; aber kaum hatte ich Zeit, den Hahn zu spannen und zu zielen, als die schnaubende Bestie herankam wie zehntausend Teufel. Meine Kugel traf sie mitten durch’s Herz, und die Büchse fortwerfend, behielt ich gerade noch Zeit, mein Messer aus der Scheide zu reißen, als sich die Wütende, wie unverwundet, auf mich warf und ich fühlte,