Falun, der 11. Juni 1935
Lieber Alfred,
Du weißt, dass Deine Familie bei uns immer herzlich willkommen ist.Auch für Deinen Schulfreund wollen wir gute Gastgeber sein.Bereite ihn auf das Landleben vor, denn hier ist das Leben einfacher, als im schönen Berlin und die Uhren gehen hier anders, als bei Euch. Momentan ist sehr viel Arbeit auf dem Hof und auf den Feldern, aber wir werden noch genügend Zeit miteinander verbringen können.
Liebe Grüße auch an Deine Eltern
Lars und Annegret Lindgreen
In der Abschlusskonferenz der Schulleitung des Gymnasiums kam der Fall Haralds nochmals zur Sprache. Einige Lehrer fanden die Entscheidung des Direktors nicht richtig, zumal der Junge die Sympathien aller auf seiner Seite hatte. Doch der Direktor Dr. Scholz blieb in seiner Entscheidung hart. Der Klassenleiter der ehemaligen 12b, Herr Neumann, hörte sich die fadenscheinigen Gründe an, warum man Harald das Abschlusszeugnis verweigert hatte, doch er wollte sich damit nicht abfinden. Sein Protest fand im Stillen statt. Schließlich ging es um die Zukunft eines begabten jungen Mannes, der weiter keine Verbrechen begangen hat, als dass sein Vater Jude war. Er fand einen Grund nach Dienstschluss länger zu bleiben, um das Zeugnis nachträglich noch ausliefern zu können. Geschrieben hatte er es zusammen mit den anderen, doch der Direktor hatte es vor der allgemeinen Übergabe unter Verschluss genommen. Nun kam es darauf an, in den Besitz des Dokumentes zu gelangen, ohne dass es jemand merkte. Herr Neumann wusste, dass es kriminell war, was er nun tat. Trotz heftiger Bedenken, wollte er begangenes Unrecht wieder gut machen und brach in das Büro des Direktors ein. Wenn jemand dahinter kam, konnte er seinen Beruf an den Nagel hängen.Das Büro des Direktors, gleich neben dem großen Lehrerzimmer im ersten Stock, war bei dessen Abwesenheit immer verschlossen. Der Klassenlehrer besorgte sich einen stabilen Dietrich und öffnete vorsichtig die kleine Verbindungstür. Er betrat mit klopfendem Herzen den ehrenwerten Raum, mit dem übergroßen Bild des letzten Kaisers und den schön geschwungenen Möbeln, die allesamt nach dem Pfeifentabak des Inhabers rochen. Im hinteren Teil des Raumes befanden sich die Unterlagen für Lehrer und Schüler in einer Registratur sauber nach Anfangsbuchstaben der Nachnamen abgeheftet. Die Schubfächer dieses Archivs waren abgeschlossen, doch er wusste, wo die Schlüssel aufbewahrt wurden. Oft genug hatte er zugeschaut, wie und wo die Sekretärin des Direktors die Schlüssel verwahrte. Halt! da war doch ein Geräusch? Wie elektrisiert hielt er in seinen Bemühungen inne und wagte nicht zu atmen. Richtig, der Hausmeister kam mit schweren Schritten den Gang entlang und rief: „Ist da noch jemand“? Im leeren Haus hallten Schritte und Rufe deutlich wider. Er wollte offensichtlich das Haus abschließen. Als niemand antwortete, ging er schließlich wieder nach unten.Dann war alles wieder still und der Lehrer nahm erneut seine Suche auf. Der vierte Schieber war der richtige. Hier waren alle Schüler mit dem Anfangsbuchstaben –E – abgelegt und nach Klassenstufen geordnet.Er nahm das Zeugnis von Harald Eisenstein heraus und schloss alles wieder sorgfältig ab. Doch wie verhielt er sich, wenn der Verlust bemerkt wurde? Dieser Gedanke schoss ihm durch den Kopf. Jetzt, wo er sicher sein konnte nicht gestört zu werden, konnte er diese Aufgabe doch auch besser und auch unauffälliger beenden. In aller Ruhe schloss er die Registratur wieder auf, suchte nach einem unausgefüllten Zeugnisformular und schrieb das Dokument mit größter Sorgfalt ab. Nun musste auch noch ein Stempel auf das Papier, sonst war es nicht rechtswirksam. Auch die Stempel waren im Schreibtisch sicher verwahrt, doch zum Glück war er an dieser Stelle offen. Nach reichlichen zwanzig Minuten besah Herr Neumann sein Werk und war mit sich zufrieden. Doch halt, die Unterschrift des Direktors fehlte noch. Der Chef unterzeichnete immer mit einem undefinierbaren Gekrakel, was nicht im Entferntesten an seinen Namen erinnern konnte. Der Lehrer musste also diesen Schwung in der Schrift erst üben. Nach mehreren Anläufen und einigen vollgeschmierten Blättern kam sein Namenserkennungszeichen der Unterschrift des Direktors sehr nahe. Nicht ohne ein ungutes Gefühl in der Magengegend beendete er seine Urkundenfälschung und besah sich seine Arbeit. Dieses Exemplar war vom echten in keiner Weise zu unterscheiden. Nun zum Abschluss noch das Schulsiegel darauf. Dieses Detail hätte er fast vergessen. Ein Blick auf dem Schulhof... der Hausmeister war nicht zu sehen. Herr Neumann schloss alles wieder sorgfältig ab, packte die vollgeschmierten Übungsblätter ein und verließ über den Hinterausgang die Schule. Festen Schrittes und in der Überzeugung größeres Unrecht verhindert zu haben, ging der Lehrer nach Hause, steckte das Zeugnis in einen neutralen Umschlag und schickte den Brief ohne Absender an Herrn Harald Eisenstein. Wie groß war die Überraschung, als Harald einen Tag später sein Zeugnis in der Hand hielt. Haralds Mutter hatte die