Jede Nacht erinnerte sie sich an den Elfenkönig. Er war ihre persönliche Seelenkrankheit. Sie vermisste ihn so sehr. Immer wenn sie Fionn nicht länger ausweichen konnte, war es der Dunkelelf, der ihre Gedanken einnahm. Er half ihr durch all die finsteren Stunden der Nacht, machte ihr den ehelichen Beischlaf eine Winzigkeit aushaltbarer. Dabei war alles grundlegend falsch. Sie kam sich vor wie eine Betrügerin.
Die Nächte neben oder unter dem Prinzen erschienen ihr wie ein doppelter Betrug. Obwohl sie ihn anflehte, heulte, fluchte und bettelte, konnte sie ihn nie abhalten. Und in der letzten Nacht war schließlich das Unaussprechliche geschehen:
Sie hatte seinen Namen gesagt. Es war lediglich ein hilfesuchendes Flüstern gewesen. Doch Fionn hatte es gehört. Vermutlich würde sie nie vergessen, wie er sie danach angesehen hatte. Er sprach seither kein Wort mehr zu ihr. Stattdessen hatte er sich komplett von ihr zurückgezogen. Er hatte sie mit den erniedrigenden Gedanken, der Verwirrung und der Last der Schuld, die sie trotz allem empfand, alleingelassen. Es sollte sie erleichtern, dass er ihr fernblieb. Immerhin verschonte sie dieser Umstand von seinen körperlichen Zuwendungen. Doch die Erleichterung kratzte nur kurz an der Oberfläche ihrer Gefühle. Vielmehr lag ihr Herz abermals in Scherben. Sie hatte nicht nur die Liebe ihres Lebens in einer anderen Welt zurücklassen müssen, sondern ebenso ihren besten Freund verloren. Als wäre all das nicht schlimm genug, hatte sie ihre Verpflichtung als Prinzessin von Tarnàl sträflich vernachlässigt. Mit ihrer unbedachten Äußerung und Rebellion gegen die Ehe riskierte sie die Allianz, die beide Reiche einen sollte. Jetzt saß sie im Schimmer der Kristalle vor dem Spiegel und starrte in ihr fahles Gesicht. Das Puder, das sie nutzte, half ihrem Teint auch nicht weiter. Ihre Augen waren dunkel umrandet. Eine erschütternde Röte füllte das Weiß ihrer Augen und in ihre Stirn hatte sich eine dünne Sorgenfalte eingegraben. Die halbe Nacht lang hatte sie sich ihrem Schmerz und damit den Tränen der ohnmächtigen Hilflosigkeit ergeben. Neue Verzweiflung verengte ihr die Kehle, da ging die Tür auf und Fionn kam herein. Bei seinem Anblick verkrampften ihre Muskeln. Stockstarr sah sie ihn an, wischte sich geistesabwesend über die Wangen, um die Spuren ihres Kummers zu verwischen. Er beachtete sie kaum. Der Bartschatten zierte sein sonst gepflegtes Gesicht. Unter seinen Augen waren ebenfalls Schatten sichtbar. Das Hemd war zerknittert und sie erkannte sandfarbene Tropfen auf der Knopfleiste. Offensichtlich war die Nacht an ihm ebenso schlecht vorübergegangen wie an ihr. »Fionn, es-« Er hob abwehrend die Hand. »Sag kein Wort. Wir müssen uns fertigmachen, die Kutsche steht zur Abfahrt bereit.« Die Scherben ihres Herzens wurden bleiern. All die ungesagten Worte, all die neue Feindseligkeit zwischen ihnen, verdichteten sich in ihrem Hals zu einem mächtigen Kloß, den es runterzuschlucken galt. Sollte ihre Ehe so aussehen? Ihre Zukunft und ihr Leben? Sie schluckte abermals und kniff die Augen fest zusammen, bis es schmerzte und die Tränen keinen Raum mehr hatten, um zu fließen. Ariana zwang sie zurück in ihren Körper und zurück in ihr Herz. Sie strich mit der Bürste durch ihre weißblonden Haare. Dabei verfolgte sie, wie Fionn zügig die Kleidung wechselte, ihr keinen einzigen Blick zuwarf, und an die Tür trat. Wie würde er mit ihr umgehen, sobald sie in seinem Heim angekommen waren? Schnell verbannte sie den Gedanken. All die Spekulationen und unlogischen Ängste halfen nicht. Vielmehr galt es, den angerichteten Schaden zu begrenzen. Wenn sie ihn wirklich verlassen wollte, wäre nicht nur ihre Existenz als Prinzessin gescheitert. Das Volk würde ihn kaum mehr als Herrscher anerkennen oder respektieren. Selbst jetzt weigerte sie sich, der Reputation ihres besten Freundes einen derartigen Schaden zuzufügen. Noch bestand Hoffnung, dass sie ihren Kindheitsfreund zurückbekam, jenen Mann, der er gewesen war, bevor sie spurlos verschwunden war. Ihr Innerstes sträubte sich vor der Möglichkeit, er könne sie lediglich als zweckdienliches Mittel betrachten. Ein Instrument, um seine Macht in den Reichen endgültig auszuweiten. Ihr ging es vielmehr um das, wonach sie sich seit ihrer Rückkehr mehr denn je sehnte: einen Freund. Einen, mit dem sie reden konnte, der sie verstand, ihr Glauben schenkte und mit ihr scherzte. Stattdessen jedoch ... Ihr Blick begegnete seinem im Spiegel. Keiner sagte was. Die Stimmung war gedrückt. »Ich gehe vor«, brummte er schließlich und verließ das Zimmer wieder. Ariana zählte langsam bis zehn, dann erhob sie sich und ging ebenfalls hinaus.
***
Alle Habseligkeiten waren verstaut und die letzten Pferde gesattelt. Die Kutsche stand bereit und hinter den Wolken kam endlich die Sonne hervor, um sie zu wärmen.
Ariana blickte auf den Palast zurück. Sie sah das schmale, lang gezogene Fenster ihres alten Zimmers im Sonnenlicht schimmern. Ein Seufzen kroch ihr über die Lippen.
Sie nahm in der Kutsche Platz und wartete. Fionn besprach sich mit dem Kutscher und hielt sich aufrecht in seiner herrschaftlichen Robe. Obwohl ihm die rechte Hand fehlte, fiel diese Einschränkung mittlerweile kaum noch auf. In der kurzen Zeit des Verlustes hatte er sich mit dem Stand der Dinge abgefunden. So, wie er sich mit ihr und ihrer Ehe arrangiert hatte, schoss es Ariana zynisch durch den Kopf.
»Prinzessin«, wandte er sich nach einem Moment ihr zu. Sein Blick war hart, seine Stimme unterkühlt. »Ich habe alles geregelt. Wir reisen abseits der Hauptstraßen. Auf diese Weise kommen wir rascher voran und treffen heute am späten Nachmittag in Farnàl ein.«
»Dein Vater ist informiert?«, fragte sie, nachdem er sich ihr gegenüber hingesetzt hatte und die Tür verschlossen worden war.
»Er erwartet uns, sei unbesorgt.«
»Ich bin nicht besorgt.«
Er warf ihr einen gönnerhaften Blick zu, der sie ärgerte. Als wüsste er, was in ihr vorging. Sie sah weg und schwieg. Ein weiteres Mal schluckte sie den Ärger hinunter, der ihr den Magen verätzte, sobald Fionn sich ihr gegenüber blasiert gab. Es nützte nichts, wenn sie ihn darauf ansprach. Das hatte sie bereits hinter sich. Er nickte, beteuerte Entschuldigungen und änderte doch nichts an seiner Art ihr gegenüber.
Es war ein Sakrileg im Ehebett den Namen eines anderen zu flüstern. Nun war es aber geschehen. Sie konnte es nicht wieder zurücknehmen und ungeschehen machen. Alles in ihr drängte schuldbewusst danach, die Verhältnisse mit Fionn zu klären. Aber ihn interessierte das offenbar nicht. Dabei standen ihnen Stunden in dieser beengten Kutsche bevor. Eine Zeit, in der unmöglich war, sich zurückzuziehen. Zudem würde sich niemand sonst um ein lockeres Gespräch bemühen. Sie waren völlig allein mit sich und all den schrecklichen Gedanken und Gefühlen.
Ariana straffte die Schultern. Sie sammelte genug Mut und sah zurück zu ihm. Er hielt die Augen geschlossen und lehnte entspannt am Rückenpolster.
Sie räusperte sich.
»Stimmt was nicht?«, fragte er, ohne die Liddeckel zu heben.
»Da du fragst: Nein.«
Träge blinzelte er. Dann sah er sie unter den halbgeschlossenen Augen hinweg an. »Und was mag das wohl sein?«, murmelte er.
»Letzte Nacht-«
Er stöhnte genervt. »Ich will darüber nicht reden. Warum willst du es so unbedingt?«
»Weil die Situation zwischen uns steht.«
»Wir müssen nichts klären«, entgegnete er. In seinen Augen blitzte es. »Du hast den Namen eines anderen genannt, als eigentlich meiner über deine Lippen kommen sollte.« Er zuckte ruckartig mit den Schultern, als wollte er etwas abschütteln. »Was gibt es da zu klären?«
»Es tut mir leid, Fionn.«
»Gut. In Ordnung. Ich akzeptiere also und nehme deine Entschuldigung an. Zufrieden? Versprich mir, dass das nie wieder passiert.«
Sie nickte zügig, ehe sie es sich anders überlegen konnte. Vor dem Fenster der Kutsche beobachtete sie, wie der Palast ihres Vaters kleiner wurde. Sie fühlte sich nicht wohl mit dem Gedanken, dass Fionn ihre Entschuldigung zum Schein angenommen hatte. Daran war etwas falsch. Gleichzeitig hatte sie keinerlei Ahnung, wie sie die Verhältnisse zum Besseren wenden konnte.
Sie dachte an ihren Lesesessel. Von dort aus war sie in die fremde Welt und dem Elfenkönig vor die Füße gefallen. Es war ihre Vergangenheit. Vor ihr lag die Zukunft. Wer wusste, ob sie und Kieran sich je wiedersahen?
***