Aber eigentlich hatte sie gut zu tun in Bremen. Da gab es Patienten genug. Gelenke kaputt, Fettleibigkeit, falsche Ernährung, zu wenig Auslauf, im Grunde genau die Leiden, die Menschen auch haben. Kaatje lachte laut auf. „Aber sag das mal einem Herrchen oder Frauchen“, dachte sie und eilte die Treppen des „Hotel Isarkutter“ hinunter. Sie hatte sich dort für eine Woche eingemietet, in München, fernab von Bremen und ganz nah zwischen Bergen und Natur. Herrlich, ein Sommerurlaub in München, Ende Juli.
„Der Englische Garten gehört zu den größten Parkanklagen der Welt. Knapp 400 ha Grünanlage, im NordOsten von München, am Westufer der Isar“ hatte sie in der Schule gelernt. Ob er immer noch einer der größten der Welt war? Sie wusste es nicht. War auch nicht wichtig. Mitten in München und mit so vielen Attraktionen, das war ihr wichtiger.
Biergärten, staunenswerte Ausblicke, Liegewiesen und Scharen von fröhlichen Menschen begegneten ihr auf ihrem Weg zum Eisbach. Im Sommer war hier Hochbetrieb und eine Erfrischung im Eisbach angenehm. Sie aber nahm ihr Handy aus der Hosentasche und startete ein Filmchen. Surf-Action am und im Eisbach. Fantastisch. Manche Surfer konnten sich minutenlag auf der Welle halten, ehe sie in die Fluten eintauchten und ihr Glück erneut versuchten.
Nach fast einer Stunde taten Kaatje die Beine weh und sie machte sich auf zu einem Café. Auf den großen Wiesen staunte sie über Federball, Jogger, viele Hunde und jede Menge Radfahrer. An einem Biergarten mit Seeblick hielt sie inne. Biergarten war auch gut. Passte. Und ein Päuschen hatte sie jetzt bitter nötig.
Sie hatte Glück. Ein Pärchen stand gerade auf, winkte ihr zu und überließ ihr den Tisch mit einem fantastischen Blick auf den See. Hmmm, leckere Gerichte standen auf der Speisekarte und sie hatte Hunger. Oder doch nur Kaffee? Kaatje überlegte kurz, ob ihr Bruder wohl mit den beiden Irischen Wolfshunden in ihrem Haus zurecht kam. Thure hatte sie nämlich gefragt, ob er die Woche in ihrem reetgedeckten Hof am Rande von Bremen wohnen könnte, während sie in München war. Er würde dafür auch auf Pan und Amos aufpassen und sie versorgen.
Ob sie ihn mal anrufen sollte? Dann konnte sie hier auch in aller Ruhe essen und vielleicht doch mal in ihren Facebook-Account schauen. Eigentlich wollte sie das diese Woche vermeiden. Aber man wusste ja nie...
Sie bestellte sich eine Bärlauchcrémesuppe, danach den Baby-Steinbutt mit Kräutern, Knobi und Zitrone und als Getränk ein Radler. Es gab sogar BioEis in den Geschmackssorten Ingwer, Pflaume-Zimt und Gries-Sahne. Vielleicht passte am Ende noch etwas rein in ihren Magen. Und wenn nicht - sie war ja noch drei ganze Tage in München und man musste es nicht übertreiben.
Während Kaatje auf ihre Leckereien wartete, klingelte sie bei Thure durch, aber niemand ging ran. Typisch für Thure.
Dann tippte sie fast verschämt auf das weiße f im blauen Quadrat in ihren Apps. Erschrocken tat es ihr sofort leid. 38 Benachrichtigungen, 17 Nachrichten und eine Freundschaftsanfrage. Nach nur drei Tagen. Eine Freundschaftsanfrage? Wer das wohl sein könnte? Einige Patienten waren mit ihr befreundet. Und sie bestätigte diese Freundschaften immer. Man wollte sie ja als Patienten behalten. Meistens posteten sie dann Hundebilder oder Katzen, Mäuse und Hamster und somit völlig ungefährlich und bei FB-Usern durchaus beliebt.
Als sie schaute, wer da die Anfrage gestellt hatte, wurde ihr schlagartig übel. Emma Larssen!!! Das durfte doch gar nicht wahr sein. Die alte Hexe, dass die sich das traute. Larssen. So hieß sie jetzt, wie Meeno. Larssen. Nicht mehr Greiner.
Als die Bärlauchsuppe serviert wurde, konnte Kaatje gerade noch alles bezahlen, sich entschuldigen und mit wackeligen Beinen in ihre Pension fahren, mit einem Taxi. Dort nahm sie eine Valium und legte sie sich auf ihr Bett.
Tagebuch Kaatje
Liebes Tagebuch,
mir ist immer noch ganz schlecht. Ich kann es kaum fassen. Jahre lang habe ich versucht, Meeno und diese Emma zu vergessen, eher zu verdrängen, und dann finde ich heute von ihr in meinem Urlaub eine Freundschaftsanfrage bei FB vor. Unglaublich.
Meeno, mein geliebter Meeno, wie verliebt waren wir seit der Zehnten. Wir waren DAS Paar, das TRAUMPAAR der Schule. Meeno hat mir jeden Wunsch von den Augen abgelesen, mich überall als seine „Freundin for ever“ vorgestellt, ich war bei seinen Eltern fast schon die Schwiegertochter. Und dann kommt zu Beginn der Elften dieser Barbie-Verschnitt mit Supertaille und langem wallenden Haar in blond zu uns in den Jahrgang.
„Hey, Leute, ich komme aus München und bin nun bei euch im Jahrgang. Ich bin Emma“.
DAS waren ihre Worte. Ich sah Meenos Gesicht und wusste sofort, ich hatte verloren. IHN verloren. Und sie hatte ihn gewonnen. Einfach so. Mit „Hey, Leute, ...“
Als ich heute die Anfrage fand, da fragte ich mich, ob ich deswegen vielleicht in München war. SIE kam aus München. Vielleicht wollte ich hier gar nicht relaxen, Berge und Natur sehen? Vielleicht wollte ich immer noch den Schmerz fühlen, auffrischen? München, da lebte sie.
Ich weiß es nicht, ich weiß nur, dass ich Meeno noch vermisse, nach all’ den Jahren....
Als Dr. Schuster, unser Politik-Lehrer, mit uns die Bildungsfahrt nach Berlin plante, da wusste ich noch nichts von unserer Liebe, von Meeno. Meeno war in der Parallelklasse, in der 10F, und die Berlin-Fahrt war aus Kostengründen mit der 10F und der 10L zusammen geplant. Franzosen und Lateiner. Na toll.
In Berlin stand einiges auf dem Plan. Historische Gebäude und Orte wie Reichstag, Brandenburger Tor, die Straße unter den Linden, die Humboldt-Universität. Darüber hinaus waren Informationen über die Schattenseiten des SED-Staates und Funktion und Funktionieren des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) mit seinem Überwachungssystem eingeplant. Die Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen, die ehemalige Untersuchungshaftanstalt der Stasi der DDR, war ebenfalls eines unserer Ziele.
Und dann verteilte Dr. Schuster die Referate. Immer einer aus der 10F zusammen mit einem aus der 10L. Meeno und ICH. Ja, das war der Anfang.
Und dann? Das Ende? Schmerz? Nach Jahren jetzt eine Freundschaftsanfrage? Ausgerechnet von IHR?
Ich werde nachdenken. Vielleicht kann ich so auch meinen Schmerz vergessen? Ihn aufarbeiten? Mit Emma? Oder wenigstens Meeno wiedersehen? Vielleicht haben sich die Zwei auch schon satt? Wie lange sie wohl verheiratet sind? Ob sie Kinder haben? Kinder, die ich nie von Meeno kriegen durfte?
Werde ich diese Anfrage bestätigen? Ich weiß es nicht. Drei Tage bleibe ich noch in München. Die Zeit nehme ich mir. Dann will ich es wissen, für mich, ob ich es ertragen werde, sie wieder um mich zu haben. Sie zu sehen, von Meeno zu hören, zu wissen, er liebt jetzt SIE. Oder tut er das gar nicht? Hoffe ich DAS?
Emma wird schwanger
Als Emma erwachte, stieg eine unbekannte Übelkeit in ihr hoch. Ihr Mund füllte sich spontan mit einer Art Wasser und sie hatte nur noch wenig Zeit, um ins Bad zu stürzen und sich die Hand vor den Mund zu halten. Mehr schaffte sie nicht. Es sprudelte durch ihre Finger hindurch, auf die Fliesen und klebte dann an ihrer rechten Hand.