Verloren?
«Mercy . Mercy.
Show me mercy, from the powers that be
Show me mercy, can someone rescue me?»
Laut dröhnt der Refrain des Muse-Songs in ihren Ohren. Sie sitzt wie paralysiert auf der Bank auf Gleis 15 und starrt mit leerem Blick vor sich hin. Um sie herum herrscht hektischer Reisebetrieb. Sie bemerkt ihn nicht. In der Hand hält sie einen Becher Kaffee. Der Inhalt schmeckt wie der Becher selbst, nach Styropor. Mittlerweile ist der Kaffee kalt, was sie gar nicht wahrnimmt.
Als sie heute die Wohnung verliess, war die Welt noch in Ordnung. Sie fuhr wie gewohnt mit der Tram zur Arbeit. Dort passierte das Unfassbare: Sie wurde gefeuert. Einfach so. Die Leute der Human-Resources-Abteilung sprachen irgendetwas von Umstrukturierung, Outsourcing und weiss der Kuckuck was. Der Grund ist ihr so oder so egal. Das Fazit bleibt dasselbe: Sie ist ihren Job los.
Sie durfte an Ort und Stelle ihren Zutritts-Badge zum Gebäude abgeben. Ihr persönliches Hab und Gut wird ihr per Kurier zugestellt. Wie nett. Nicht einmal ihren Kolleginnen und Kollegen durfte sie auf Wiedersehen sagen. Das war's. Das Ende ihrer Karriere. Als sie zum Ausgang begleitet wurde ‒ ja, sie wurde tatsächlich eskortiert ‒ und die Türe hinter ihr ins Schloss fiel, spürte sie einen Phantomschmerz an ihrem Hintern.
Sie mochte ihren Job. Sie mochte ihre Kolleginnen und Kollegen. Wer noch alles gefeuert wurde, entzieht sich ihrer Kenntnis. Ihr wurde mitgeteilt, dass sie nicht die Einzige sei. Was für ein Trost! In der Gerüchteküche des Betriebes brodelte es schon lange, und es wurde gemunkelt, dass etwas Grosses anstehen würde. Sie gab nicht viel auf Klatsch und Tratsch. Lieber machte sie einen tadellosen Job. Das hat ihr das Gefühl vermittelt, auf der sicheren Seite zu stehen. Wie man sich täuschen kann!
Der Bass wummert in ihren Ohren. Sie möchte schreien. Aber sie kann nicht. Das Atmen fällt ihr schwer. Sie fühlt sich verraten und tief verletzt. Die letzten Jahre, die sie in diese Firma investiert hatte, waren für nichts und wieder nichts. Alles, was sie mit aufgebaut hatte, war nun Makulatur.
Was erzählt sie bloss ihrer Familie und ihren Freunden? Dass sie in ihrem Job versagt hat, und die Firma locker auf sie verzichten kann? Dass man sie bei der Umstrukturierung und bei weiss der Kuckuck was nicht brauchen kann? Dass ihre bisherigen Anstrengungen und Bemühungen für die Katz' gewesen sind?
Sie schaut mit leerem Blick auf die Geleise. Plötzlich weiss sie haargenau, was zu tun ist. Sie sieht, wie der Zug in den Bahnhof einfährt. Sie steht von ihrer Bank auf und geht auf dem Perron dem Zug entgegen. Als der Zug zum Stehen kommt, steigen die Leute aus. Sie wartet, bis alle ausgestiegen sind, sucht sich einen Platz, der nicht reserviert ist, setzt sich hin und wartet, bis sich der Zug wieder in Bewegung setzt.
«Aux Champs-Elysées, aux Champs-Elysées,
Au soleil, sous la pluie, à midi ou à minuit,
Il y a tout ce que vous voulez aux Champs-Elysées.»
Die vertraute Stimme von Joe Dassin tönt aus ihren Kopfhörern und ein Lächeln schleicht sich auf ihr Gesicht.
Endstation Paris-Gare de Lyon.
Inspiration: Mercy von Muse / Champs-Elisées von Joe Dassin
Am Strand
Mit einem grenzdebilen Lächeln steht sie am Sandstrand. Die leisen Wellen umspielen ihre Füsse. Ihre schön manikürten Zehen sinken im Sand ein. Den Lack hat sie mit ruhiger Hand selbst aufgetragen. Sie schaut aufs Meer hinaus und geniesst die Ruhe. Sie ist allein. Keine Menschenseele weit und breit ist zu sehen. Nur die Möwen kreisen über den Wellen. Die Sonne berührt den Horizont. Ein atemberaubender Sonnenuntergang zeichnet sich ab. Das Licht, welches sie umgibt, ist golden. Sie sieht in diesen Strahlen wie ein Engel aus. Anmutig. Der Wind spielt mit ihren blonden langen Haaren.
Nie war sie glücklicher als jetzt. Sie hat mit sich und der Welt Frieden geschlossen. Alles ist stimmig. Das war in den letzten Jahren nicht immer so. In ihrem jungen Leben musste sie einiges an Peinigung und Demütigung über sich ergehen lassen. Sie wuchs in einem behüteten Umfeld auf. Mit zwanzig lernte sie ihn kennen und verliebte sich Hals über Kopf. Er sah verwegen und unheimlich gut aus und trug sie in der Anfangsphase ihrer Beziehung auf Händen. Sie betete den Boden an, auf dem er wandelte. Was für ein Fehler! Er veränderte sich und entpuppte sich als eifersüchtiger Tyrann. Sie durfte die Wohnung, in der sie mit ihm zusammenlebte, nicht mehr ohne ihn verlassen. Ihre Arbeitsstelle musste sie aufgeben und damit auch ihr gesamtes soziales Umfeld. Keinen Kontakt zur Familie oder zu Freunden war ihr mehr vergönnt. Sie fügte sich. Sie liebte ihn abgöttisch. Sie redete sich erfolgreich ein, dass sein Verhalten daherkäme, dass er sie ebenso liebte und er sie mit niemandem teilen möchte.
Die physische Gewalt stellte sich schleichend ein. Die Schläge kamen des Öfteren und waren schmerzhaft. Irgendwann war es soweit, dass sie sich selbst nicht mehr belügen konnte. Sie musste weg. Ihn verlassen. Ein Versuch, aus ihrem Gefängnis zu fliehen, endete kläglich und machte ihr das Leben noch mehr zur Hölle. Er drohte ihr, sie zu töten, sollte sie sich ihm widersetzen. Sie hatte Angst. Lähmende Angst. Ihre Seele und ihr Lebenswille zersplitterten wie ihr Herz.
Und jetzt? Sie ist zufrieden. Zufrieden mit sich und der glücklichen Wendung in ihrem Leben. Als er heute nach seiner Arbeit nach Hause kam, war er guter Laune und ging mit ihr zum Strand. Da wusste sie noch nicht, wie glücklich sie diese schicksalhafte Fügung machen würde. Die Chance kam, und sie packte sie am Schopf. Es ging sehr schnell. Zeit zum Zögern blieb ihr nicht. Sie handelte instinktiv und mit unglaublicher Entschlossenheit. Woher sie die Kraft nahm, wird ihr für immer ein Rätsel bleiben. Das Geräusch des knackenden und brechenden Schädels war wie Musik in ihren Ohren. Im Nachhinein hätte sie ihm jedoch ein qualvolleres Ende gewünscht. Er hätte sie anflehen müssen, am Leben bleiben zu dürfen. Er hätte um Gnade winseln müssen. Sein Leben lag in ihren Händen. Was für ein Hochgenuss!
Jetzt ist es vorbei. Für immer.
Für ewig.
Nichts ist endgültiger als der Tod.
Sie fühlt sich befreit und voller Leben. Das Leben, das sie ihm entzog, wurde auf sie übertragen.
Wer immer diese Schaufel an diesem verlassenen Strandabschnitt liegen gelassen hat, sie wird dem- oder derjenigen für immer dankbar sein. Sie geht zurück zum bereits ausgehobenen Loch, schiebt seine Leiche hinein, ohne mit der Wimper zu zucken und beginnt, sein Grab mit Sand zu füllen. Mit jeder Faser ihres Körpers geniesst sie das Zudecken. Sie sperrt ihn in ewige Dunkelheit.
Inspiration: Bring Me To Life von Evanescence
Grün
Bröckelt da der Putz von der Decke? Das ist nicht gut. Gar nicht gut. Sie liegt im Bett und starrt den feinen Haarriss an der Decke an, der immer breiter zu werden scheint. Sie richtet sich auf, nimmt ihren Notizblock zur Hand und schreibt dies mit ihrem grünen Filzstift auf ihre To-do-Liste. Sie muss diese Entdeckung unbedingt Marco mitteilen. Er wird das dann schon richten. Das macht er immer. Dafür liebt sie ihn. Nicht nur dafür. Er ist immer für sie da, wenn sie ihn braucht, und das schon seit einem Jahr, zwei Monaten, vier Tagen und fünf Stunden. Sie zählt mit.
Sie legt sich wieder hin, schliesst ihre Augen, damit sie nicht immer den Riss in der Decke anstarren muss. Irgendwie hat sie das Gefühl, dass der Riss nun sie anstarrt. Es ist ihr nicht mehr wohl. Stöhnend dreht sie sich auf die Seite und starrt gegen die weisse Wand. Der Fleck der zerquetschten Mücke von letzter Nacht ist immer noch da. Das nervt sie ungemein. Nicht so sehr jedoch, wie es die Mücke tat. Schliesslich hat sie gegen dieses Vieh gewonnen. Sie grinst. Wegwischen mag sie den Fleck nicht. Ihn weiterhin anstarren zu müssen, ist wiederum auch keine Option. So richtet sie sich wieder auf, greift nach dem Notizblock und schreibt dies mit ihrer krakeligen Schrift ebenfalls auf die To-do-Liste. Marco wird