Nun kam der Pfarrer auf den Kern seines Anliegens:
„Und wer hat unserem Herrn und Gott all dies angetan? Die Juden waren es, die unseren Heiland so grausam dahin geschlachtet haben. Und dann haben sie noch geschrien: ‚Sein Blut komme über uns und unsere Kinder!‘ Aber was sehen wir? Die dreiste Brut dieser Verbrecher haust unangefochten in unserer Stadt und wird auch noch dadurch reich, dass sich keiner von ihnen um das göttliche Zinsverbot schert. ‚Mein Gott, mein Gott‘, kann ich da nur rufen: ‚Wie lange willst du das noch mit ansehen?‘“
„Gut gepredigt! Recht hat er!“ dachte der Ritter bei sich und im selben Moment kam ihm eine – wie er fand – geniale Idee, die er als göttliche Eingebung ansah, weil sie ihm zum einen in der Kirche gekommen war und zum anderen just in dem Moment, als der Pfarrer fragte, wie lange Gott noch zuschauen wolle. Der Ritter spürte deutlich in seinem tiefsten Inneren: Er war persönlich von seinem Schöpfer aufgefordert worden, den Frevel der Juden zu beenden. Und er wusste auch schon, wie seine gottgewollte Belohnung aussehen würde: Sein Darlehen würde sich dabei erledigen.
Als der Ritter an Ostern während der Messe zur Kommunion ging, tat er vorher so, als müsse er husten. Dabei trocknete er sich heimlich die Zunge mit dem Taschentuch ab und als der Priester ihm die Hostie in den Mund legte, hustete er ein zweites Mal, wobei er die Oblate verstohlen heraus nahm und in seiner Tasche verschwinden ließ.
Dann wartete er ab. Er hatte nämlich schon einen Plan.
Seine Tante, eine gottesfürchtige Frau, lag im Sterben. Die Familie hatte sich im Zimmer versammelt, um ihr in ihrer letzten Stunde beizustehen. Auch der Ritter war herbeigeeilt. Seine Tante war zeitweise bewusstlos und zeitweise murmelte sie etwas vor sich hin, was keiner verstand. So war es auch, als ein Kapuzinermönch kam und ihr die letzte Ölung spendete, die inzwischen Krankensalbung genannt wird. Dabei begann die alte Frau immer wieder, zusammenhanglose Worte zu flüstern, und der Mönch sagte:
„Frau von Hartzenstein, ich kann Sie nicht verstehen! Reden Sie doch bitte lauter und deutlicher!“
Aber die Frau brachte nur noch unartikulierte Laute heraus. Da trat der Ritter vor, beugte sich mit dem Ohr zu seiner Tante herunter und sprach laut und deutlich:
„Liebe Tante, wir haben uns immer gut verstanden, deshalb verstehe ich dich auch jetzt. Vertraue es mir an, was du zu sagen hast!“
Der Ritter legte sein Ohr fast auf den Mund seiner Tante, während diese nun wieder Worte vor sich hin wisperte, die nur er hören konnte. Dann richtete er sich plötzlich so auf, als ob ihm der Schreck in alle Glieder gefahren sei.
Alles redete wild durcheinander:
„Was ist?“ „Was hat sie gesagt?“
Der Ritter machte zunächst eine Kunstpause, um dadurch die Spannung zu erhöhen. Dann eröffnete er den versammelten Personen:
„Es ist etwas Furchtbares geschehen!“
Alles starrte ihn an. Dann fuhr er fort:
„Die Juden haben unseren Herrn ein zweites Mal gekreuzigt und zwar haben sie ihn an die große alte Eiche am Thingplatz genagelt. Das hat Gott meiner Tante offenbart und beschlossen, dass niemand aus dieser Stadt in den Himmel gelangen kann, bevor nicht diese Tat gesühnt ist. Meine Tante soll dies euch allen in Gottes Namen verkünden, bevor sie vor das Jüngste Gericht berufen wird.“
Vielleicht verstand die alte sterbende Frau noch diese Worte; jedenfalls regte sich offenbar furchtbar darüber auf, dass sie in ihrer letzten Stunde im Mittelpunkt dieses Dramas stand, das obendrein nur vorgespiegelt war: Sie versuchte mit weit aufgerissenen Augen, sich aufzusetzen, um zu protestieren. Aber das war zu viel für sie. Sie tat noch einen letzten tiefen Atemzug und verschied.
Im selben Augenblick stürzte alles aus dem Zimmer. Die kleine Schar brach zu der erwähnten Eiche auf, an der tatsächlich eine blutverschmierte Hostie angenagelt war. Der Leser weiß natürlich, was es mit dieser Hostie auf sich hat, aber das dumme Volk wusste es nicht. Man eilte in die Stadt zurück. Der Ritter übernahm die Regie. Er teilte die Leute ein, wer wen zu benachrichtigen hatte:
„Alle sollen sofort zum Rathausplatz kommen.“
Erst ging man zum Grafen, dann zu den Klöstern und schließlich sagte es ein Bürger dem anderen. Nach kurzer Zeit war der Rathausplatz voll von Menschen.
Der alte Prior der Dominikaner trat nach vorn und fühlte sich berufen, diese Massen anzusprechen. Er sagte nur:
„Kommt alle mit! Wir wollen sehen, was geschehen ist!“
Er hatte ein großes Kreuz mitgebracht, das normalerweise bei der Fronleichnamsprozession voran getragen wird, und ging mit dem hoch erhobenen Gekreuzigten an der Spitze des Zuges. Das Volk folgte ihm in schweigender Spannung. Schließlich wurden Gebete gesprochen und Lieder gesungen, die der alte Prior angestimmt hatte.
Als man den Wald erreicht hatte und man sich der Eiche näherte, gab es kein Halten mehr. Der ordentliche Zug löste sich auf. Jeder wollte der erste sein, der das Unerhörte in Augenschein nahm. Auch der Prior lehnte das mitgeführte Kreuz an einen Baum und lief mit. An der Eiche angekommen stellte er sich schützend neben die angenagelte Hostie und sprach:
„Herr und Gott, Jesus Christus! Was hat man dir angetan? Wir wollen zur Sühne an dieser Stelle eine Wallfahrtskirche errichten. Sie soll die schönste des Landes werden. Und wir werden alljährlich eine Bußwallfahrt hierher unternehmen. Dies geloben wir alle!“
Der Prior hob die Hände wie zum Dirigieren und fuhr fort:
„Und jetzt alle: Ja, wir geloben es!“
Das Volk fiel wie mit einer Stimme in diese Eidesformel mit ein oder besser gesagt schrie geradezu die vorgesprochenen Worte nach.
Der Ritter trat vor, stellte sich ebenfalls neben die Eiche und rief aus:
„Diejenigen, die das getan haben, sollen nicht ungeschoren davon kommen. Sie haben, als sie Jesus gekreuzigt haben, gerufen: ‚Sein Blut komme über uns und unsere Kinder!‘ Was aber ist geschehen? Sie leben bei uns wie die Maden im Speck und bereichern sich durch Missachtung des göttlichen Zinsverbots. Nehmt ihnen zur Strafe alles weg, was sie auf sündhafte Weise zusammen gerafft haben und mit diesem Geld wollen wir die Kirche zur Sühne ihrer Verbrechen bauen. Und dann lasst das wahr werden, was sie selbst bei der Kreuzigung unseres Heilands geschrien haben.“
Das Volk klatschte Beifall und johlte Zustimmung. Als der Ritter den Ort des Geschehens verließ, folgte ihm die Masse, diesmal nicht betend, sondern grölend. Man sang gemeinsam ein Spottlied auf die Juden, das damals jeder kannte, wenn es auch nur hinter der vorgehaltenen Hand weiter gegeben oder bei gehobener Stimmung im Wirtshaus gesungen wurde. Beim Refrain überschlugen sich fast die Stimmen:
„Ihr liegt schon bald in eurem Blut,
Da habt ihr’s warm, das tut euch gut.“
Auch der Prior, der mit dem Prozessionskreuz hinterdrein ging, summte leise mit und wusste: Jetzt bricht Gottes Strafgericht verdientermaßen über die Juden herein.
Und so geschah es auch, als der wütende Mob zum Judenghetto stürmte. Man drang in die Häuser ein und nahm den Bewohnern alles, was wertvoll oder brauchbar war. Auch der Ritter erschien im Haus seines Gläubigers und verlangte die Schuldurkunde.
„Sie ist nicht hier. Sie liegt in Venedig auf der Bank. Das habe ich Euch doch schon gesagt!“ erwiderte der Mann.
„Du lügst und wirst dafür deine Strafe erhalten“, schrie der Ritter. Er zog sein Schwert. Aber als der Jude vor ihm auf die Knie fiel und um Gnade wimmerte, steckte der Ritter seine Waffe wieder in die Scheide und sagte:
„An einem Lumpen wie dir will ich mein Schwert nicht schmutzig machen.“
Er verließ