Er zog ein Seniorenhandy mit großen Tasten aus der Tasche. „Dann habe ich natürlich gleich die 110 angerufen. Bei uns im Haus waren doch ihre Kollegen, die diesen Vortrag zur Seniorensicherheit …“
„Ja, das war toll, Herr Kleemann“, unterbrach Zaplinski ihn, wobei die nicht zu überhörende Ironie in seinen Worten den Inhalt konterkarierte. Er gab Magga ein Zeichen und fragte dann weiter: „Kennen Sie den Mann?“
„Ich hab nicht so genau hingeschaut“, sagte Kleemann entschuldigend.
Magga hielt dem alten Herrn das Handyfoto entgegen, das sie vom Toten gemacht hatte. Kleemann schaute drauf, verzog angeekelt das Gesicht und schüttelte den Kopf.
„Nee, den habe ich noch nie gesehen.“
„Herr Kleemann, waren zu der Zeit noch Leute hier unterwegs? Spaziergänger, Jogger oder Radfahrer?“, wollte Zaplinski wissen.
„Nein, da war niemand. Das Wetter ist ja auch nicht so toll.“
„Sie gehen ja regelmäßig hier spazieren. Ist Ihnen da in den letzten Tagen irgendetwas aufgefallen? Leute, die sich gestritten haben zum Beispiel, Hilferufe oder sowas?“
Der Senior dachte nach. „Da war nichts. Ich war auch seit ein paar Tagen nicht hier. Tut mir leid, dass ich Ihnen nicht helfen kann.“
„Macht nichts Herr Kleemann. Die Kollegen bringen Sie jetzt nach Hause“, sagte Zaplinski und wunderte sich einen Moment über seine plötzliche Fürsorglichkeit.
Kleemanns Augen leuchteten kurz auf, aber er wehrte bescheiden ab. „Ist eigentlich nicht nötig.“
„Das ist schon okay. Und Marlene wird es auch gefallen. Wiedersehen, Herr Kleemann.“ Zaplinski gab Magga ein Zeichen und sie ging zu den beiden Uniformierten hinüber, die an ihrem blau-weißen Streifenwagen standen.
Als sie wieder in den Dienstwagen stiegen, meinte Magga nachdenklich: „Hoffentlich hat die Kleine nicht allzuviel gesehen. Nicht, dass sie mit Opa jetzt keine Ausflüge mehr machen will.“
„Ja hoffentlich. Aber unser Märchenonkel ist heute beim Kaffeekränzchen im Seniorenheim garantiert der Held der Rentnergang …“, antwortete Zaplinski grinsend.
„Ach, Herr Zaplinski, ich gönn ihm das. Wenn ich so an meinen Opa denke … Im Alter kann einem furchtbar langweilig werden. Wenn kein Partner mehr da ist und die Verwandten nicht so oft zu Besuch kommen. Haben Sie gesehen, wie er aufgeblüht ist, als er uns was erzählen durfte?“
„Hoffentlich werde ich nie so ein Quatschkopp“, erwiderte Zaplinski flapsig, obwohl ihm gerade mulmig geworden war.
Partner? Verwandte? Bei ihm Fehlanzeige. Mit Schaudern dachte er daran, dass er selbst nur noch ein paar Jahre bis zum Ruhestand hatte. Er wischte den unangenehmen Gedanken sofort weg. An das tiefe dunkle Loch, in das er als Pensionär möglicherweise fallen würde, wollte er nicht mal ansatzweise denken. Die Arbeit war sein Lebensinhalt. Was würde er ohne die Kripo machen? Jeden Tag bei Moni am Tresen hocken sich langsam mit Bier und Schnaps abfüllen? Stammtischparolen dreschen, wie Werner, der dicke Manne, und Tischler-Ralf, die alle Rentner und alleinstehend waren?
Er kniff sich ins Ohrläppchen, damit der Schmerz seine Gedanken wieder in eine andere, angenehmere Richtung lenkte.
Peinlich
Zaplinski öffnete die Tür zum Obduktionssaal. Franziska Richter beugte sich gerade über einen nackten Körper, der vor ihr auf dem Seziertisch auf dem Rücken lag. Aus dem kleinen Bluetooth-Lautsprecher auf der Fensterbank lief Schlagermusik. Wieder mal Marianne Rosenberg, stellte Zaplinski fest. Warum zur Hölle hörte diese junge attraktive Frau solch furchtbare Musik aus den Siebzigern? Aus seiner Teenagerzeit? Zaplinski schüttelte den Kopf und versuchte, das Gedudel auszublenden.
Die Gerichtsmedizinerin sah von ihrer Arbeit auf, als die beiden Kriminalbeamten hereinkamen.
„Willkommen im Reich der Toten. Frau Czerny, ich begrüße Sie zur Premiere“, sagte sie zwinkernd. Sie ließ dabei den Blick einen Tick zu lange auf Magga ruhen und nickte dann Zaplinski zu.
„Herr Zaplinski … Sie kommen zur rechten Zeit, bin gerade einigermaßen fertig.“ Franziska Richter zeigte auf den Leichnam vor ihr, der den bereits wieder vernähten typischen Schnitt im Brust-/Bauchbereich aufweist. Sie war gerade dabei gewesen, die abpräparierte Kopfschwarte über den Schädel zu ziehen und vollendete jetzt ihr Werk. Magga mochte da anscheinend nicht genauer hinsehen.
„Was soll das denn sein?“, fragte sie, als sie eine Tätowierung auf der rechten Hand des Toten bemerkte. Sie besaß selbst ein Faible für kunstvolle Tattoos. Das hier war allerdings eindeutig dilettantisch gemacht worden.
Zaplinski beugte sich vor und nahm in Augenschein, was da zwischen Daumen und Zeigefinger eingestochen worden war. „Ich weiß nicht. Ein Vogel vielleicht? Das hat scheinbar ein Anfänger mit einem rostigen Nagel und Schultinte gestochen, soviel ist mal klar. Ist nicht wirklich zu erkennen. Machen Sie doch mal ein Foto, Magga. Hilft uns eventuell bei der Identifizierung.“
Sie fotografierte die Tätowierung mit dem Handy und sah sich skeptisch das Bild an. Ein Vogel?
„Woran ist er gestorben?“, wollte Zaplinski von der Gerichtsmedizinerin wissen.
Die hatte dem Toten inzwischen den Skalp ordentlich zurecht gezupft. Nun drehte sie den Körper mit ihren gummibehandschuhten Händen leicht zur Seite. „Eins nach dem andern.“
Sie zeigte im hinteren Bereich des Halses auf mehrere punktartig dunkel verfärbte Hautstellen. Jeweils kreisförmig angeordnet im Durchmesser von etwa vier Zentimetern.
Magga beugte sich zum Leichnam herunter. Dann sah sie erst die Obduzentin und dann Zaplinski verständnislos an. „Was ist das?“
Zaplinski hatte auch keine Ahnung und das war ihm ziemlich peinlich. Er versuchte, sich die Wissenslücke nicht anmerken zu lassen.
Franziska Richter hatte ihn indes sofort durchschaut und lästerte: „Ihr seht das zum ersten Mal? Na, ihr seid mir ja schöne Ermittler. Wie lange sind Sie schon dabei, Herr Zaplinski?“
Zaplinski wackelte unwirsch mit dem Kopf und die Gerichtsmedizinerin ließ sich grinsend dazu herab, das Rätsel zu lösen.
„Das sind Strommarken. Euer Freund hier hat unliebsame Bekanntschaft mit einem Elektroschocker gemacht. Und das gleich mehrfach.“ Sie ließ den Leichnam wieder auf den Rücken gleiten. „Wir haben das mal mit einem schwächeren Modell hier selber ausprobiert, aus reiner Neugier“, sagte Franziska Richter. „Das zeckt fürchterlich, du kannst vor Schmerzen echt nicht mehr reagieren, bist wie gelähmt. Einmal und nie wieder …“ Sie schüttelte sich.
„Spuren vom Elektroschocker habe ich auch im Genitalbereich gefunden. Außerdem gibt es massive stumpfe Verletzungen da unten. Also da hat ihm jemand richtig die Kronjuwelen malträtiert.“ Sie zeigte auf die unnatürlich dick geschwollenen Hoden. „Ich bin zwar kein Mann, zum Glück …“, setzte sie an und sah dabei Magga an. „Aber das war unter Garantie nicht lustig. Oder was meinen Sie, Herr Zaplinski?“, beendete sie den Satz mit einem frechen Grinsen in Richtung des Hauptkommissars.
An dessen Gesicht war die Anteilnahme hinreichend deutlich abzulesen. Er besaß genügend Fantasie, um nachzufühlen, was seinem dahingeschiedenen Geschlechtsgenossen da widerfahren war. Zaplinski konnte gerade noch den Impuls unterdrücken, bei sich selbst zu ertasten, ob da alles noch in Ordnung war.
Die beiden Frauen versuchten, angesichts des gequält dreinblickenden Chefermittlers ein Lachen zu unterdrücken. Mit nur mäßigem Erfolg.
Die Gerichtsmedizinerin fuhr fort: „Er hat außerdem Würgemale am Hals. Allerdings nicht tödlich. Dann noch Blutergüsse im Gesicht, ein geplatztes Trommelfell. Von Schlägen vermutlich.“
„Was haben Sie sonst noch gefunden?“,