Einen Augenblick nur zögerte sie, aber dann wandte sie ihr Gesicht nach Südost und machte sich durch die Schlucht des Wassers auf den Weg zum Kor-ul-gryf. Dort gab es wenigstens keine Menschen.
Vorsichtig schlich sie zum Fuß der Felsen am jenseitigen Ende der Schlucht, und hier fand sie gegen Mittag einen ziemlich leichten Aufstieg. Sie stand schließlich am Rande des Kor-ul-gryf - des Schreckensortes in der Sagenwelt ihres Volkes. Dicht und geheimnisvoll wuchsen unten die Pflanzen. Beinahe auf gleicher Höhe mit dem Grat der Felsen schwenkten riesige Bäume ihre federartigen Wipfel und über allem brütete ein unheilverkündendes Schweigen.
Dunkle Blume lag auf dem Bauch, beugte sich über den Rand des Felsens und erforschte ihre Umgebung. Sie konnte die Höhlen sehen und die steinernen Haken, welche von ihren Vorfahren stammten. An den heimischen Feuern hatte sie in ihrer Kindheit die Geschichten gehört. Sie wusste, wie die Gryfs aus den Sümpfen jenseits der Berge gekommen waren, und wie die letzten ihres Volkes geflohen, nachdem viele von den scheußlichen Tieren überfallen und verschlungen worden waren. Ihre Höhlen standen schon so lange unbewohnt, dass kein Lebender genau sagen konnte, wann sich dieser Untergang abgespielt hatte. Einige sagten, dass der Gott Jad-ben-Otho, der ewig lebt, damals noch ein kleiner Junge war. Dunkle Blume schauderte, aber vor ihr lagen die Höhlen und sie würde dort sogar vor den Gryfs sicher sein.
Sie fand eine Stelle, an welcher die Haken bis zum Grat der Felsen führten. Langsam kletterte sie zur obersten Höhle hinunter. Die Plattform vor dem Eingang glich denen ihrer eigenen Höhlen. Der Boden war mit Zweigen, alten Nestern und Vogeldreck überstreut und der Eingang zur Höhle beinahe verstopft. Sie kletterte zum nächsten Felsvorsprung und zum übernächsten, aber bei allen hatte sich die gleiche Menge Unrat angesammelt. Es war klar, dass sie sich die weitere Suche ersparen konnte. Diese Höhle schien groß und geräumig. Mit ihrem Messer begann sie die Ablagerung wegzuräumen, indem sie den Unrat einfach über den Rand der Klippe schob. Von Zeit zu Zeit richtete sie ihre Augen in die schweigende Schlucht, wo die gefürchteten Bestien lauern mochten.
Andere Augen waren dort, Augen, die Dunkle Blume nicht sah, aber die sie sahen und jede ihrer Bewegungen verfolgten - wilde Augen, gierige Augen, listig und grausam. Sie beobachteten sie und eine rote Zunge leckte über schlaffe, hängende Lippen. Sie beobachteten sie und ein halbmenschliches Gehirn entwarf eifrig einen brutalen Anschlag.
Wie in ihrem eigenen Tal hatten die längst verwesten Erbauer der Höhlen die natürlichen Quellen über den Felsen so gelenkt, dass wie seit uralten Zeiten auch jetzt noch das frische, klare Wasser in unmittelbarer Reichweite vom Eingang der Höhlen herniedertropfte. Zur besonderen Schwierigkeit wurde jedoch die Beschaffung von Nahrung. Zu diesem Zwecke musste sie wenigstens alle zwei Tage das Risiko eines Abstiegs auf sich nehmen, denn sie war überzeugt, dass sie nahe am Fuß der Felsen Früchte, Knollen und vielleicht auch kleine Tiere, Vögel und Eier finden konnte. Die letzteren waren vielleicht sogar in den Höhlen zu finden. Hier konnte sie dann unbegrenzte Zeit leben. Ein gewisses Gefühl der Sicherheit überkam sie. Es war zweifellos von der sicheren Lage ihres Zufluchtsortes hervorgerufen, von der sie wusste, dass sie vor den gefährlichen Bestien Sicherheit bot, und vor den Menschen, da sie in dem verfluchten Kor-ul-gryf war.
Für Dunkle Blume war diese alte Höhle wohnlich und bald vertraut. Innen fand sich weniger Unrat als draußen und was sich fand, war meist nur Staub. Neben dem Eingang war die Nische, in der sich Holz und Zunder befunden haben mussten, aber auch hier gab es nur noch Staub. Aus dem Unrat auf der Plattform hatte sie jedoch einen kleinen Stapel Zweige gerettet. In kurzer Zeit entfachte sie ein kleines Feuer. Einen Zweig am anderen entzündend, hatte sie eine Fackel, mit deren Hilfe sie die inneren Höhlen erforschen konnte. Sie fand auch hier nichts Neues oder Fremdes, kein anderes Überbleibsel der früheren Bewohner als ein paar zerbrochene Steinteller. Sie hatte nach einer weichen Unterlage gesucht, auf der sie schlafen konnte, aber sie wurde enttäuscht. Offensichtlich war der Auszug der früheren Bewohner langsam vor sich gegangen, denn sie hatten ihre gesamte Habe mit sich genommen. Zwar gab es unten in der Schlucht Blätter, Gras und leichte Zweige, aber Dunkle Blume hatte nicht den Mut, nur um der Bequemlichkeit willen, in den scheußlichen Abgrund zu steigen - nur die Notwendigkeit, sich Nahrung 2u beschaffen, würde sie dorthin treiben. So versuchte sie, als die Schatten länger wurden und die Nacht hereinbrach, sich mit dem, was sie hatte, ein Bett zu bauen. Sie sammelte den Staub der Zeiten, trug ihn auf einen kleinen Haufen und streute ihn als Unterlage zwischen ihren weichen Körper und dem harten Boden - es war besser als nichts. Außerdem war sie sehr müde. Sie hatte seit zwei Nächten nicht mehr geschlafen und in der Zeit, die zwischen den Nächten lag, hatte sie viele Gefahren und Anstrengungen hinter sich gebracht. Es nimmt daher nicht Wunder, dass sie, trotz des harten Bettes, beinahe sofort eingeschlafen war, nachdem sie sich zur Ruhe gelegt hatte. Dunkle Blume schlief.
Der Mond stieg herauf, warf sein silbernes Licht auf das weiße Antlitz der Felsen und erhellte die Finsternis des dunklen Waldes und des grausigen Abgrundes. Lange herrschte Schweigen. Da kam aus den oberen Bereichen der Schlucht ein tiefes Bellen. Etwas bewegte sich in den Bäumen am Fuße der Felsen. Noch einmal hob sich das tiefe, unheilvolle Bellen. Es wurde unterhalb der verlassenen Siedlung beantwortet. Etwas fiel aus dem Laub der Bäume dicht unter der Höhle, in welcher Dunkle Blume schlief - fiel auf die Erde in den tiefen Schatten. Jetzt bewegte es sich vorsichtig. Es erreichte den Fuß der Klippe und nahm im Licht des Mondes Form und Gestalt an. Es schlich sich heran wie ein Geschöpf aus einem Alptraum - langsam, schwerfällig. Mit einem solch grotesken Pinsel malte der Mond, dass es ein riesiger Affe - oder ein seltsamer Mensch sein konnte.
Langsam stieg es an der Felsenwand empor - schlich dahin wie eine große Raupe. Aber nun berührte er das Licht des Mondes erneut, und plötzlich hatte es Hände und Füße, mit denen es sich an die Steinhaken klammerte und sich mühselig der Höhle entgegenarbeitete, in der Dunkle Blume schlief. Aus der Tiefe des Abgrundes kam wieder der bellende Laut und er wurde irgendwo über den Höhlen beantwortet.
Tarzan öffnete seine Augen. Er wurde sich der Schmerzen in seinem Kopf bewusst, und das war zunächst alles. Kurze Zeit später richteten sich seine zurückkehrenden Wahrnehmungen auf groteske Schatten, die sich vor ihm hoben und senkten. Schließlich erkannte er, dass er sich in einer Höhle befand. Ein Dutzend Krieger der Waz-don saßen umher und unterhielten sich. Eine unförmige Steinpfanne enthielt brennendes Öl, dessen Flamme die Höhle erleuchtete, und so wie die Flamme sich hob und senkte, tanzten die verzerrten Schatten der Krieger auf der Wand hinter ihnen.
»Wir haben ihn dir lebend gebracht, Häuptling«, hörte er einen von ihnen sagen, »denn niemals zuvor wurde ein solcher Ho-don gesehen. Er hat keinen Schwanz - er wurde ohne Schwanz geboren, denn es ist keine Narbe dort, wo der Schwanz sitzen müsste. Die Daumen an seinen Händen und Füßen sind ganz anders als die bei uns und den anderen Stämmen. Er ist stärker als viele Männer zusammen, und er greift mit der Furchtlosigkeit eines Löwen an. Wir haben ihn dir lebend gebracht, damit du ihn sehen kannst, bevor er erschlagen wird.«
Der Häuptling stand auf und ging zu dem Affenmenschen, der seine Augen wieder schloss und Bewusstlosigkeit vortäuschte. Haarige Hände packten ihn und er wurde nicht allzu sanft umgewendet. Der Häuptling prüfte ihn vom Kopf bis zu den Füßen und machte besonders über die Form und Größe seiner Daumen und Zehen Bemerkungen.
»Mit diesen Gliedern und ohne Schwanz kann er nicht klettern«, sagte er.
»Nein«, stimmte einer der Krieger zu. »Er würde sicher von den Haken der Felsen fallen.«
»Ich habe noch niemals solch ein Wesen gesehen«, sagte der Häuptling. »Es ist weder ein Waz-don noch ein Ho-don. Ich möchte gern wissen, woher es kam und wie es genannt wird.«
Die Waz-don riefen laut »Tarzan, der Schreckliche!«
»Und wir dachten, dass sie diesen hier damit meinten«, sagte ein Krieger. »Sollen wir ihn töten?«
»Nein«, antwortete der Häuptling. »Wir werden warten, bis das Leben wieder in seinen Kopf zurückgekehrt ist, damit ich ihn befragen kann. Bleibe du hier, In-tan und bewache ihn. Wenn er wieder hören und sehen kann, rufe mich.«
Er