Bourdieu trennt sich von einer funktionalistischen Sichtweise des Kalenders und schildert den kabylischen Kalender existierend auf einer Basis von praktischer Logik, mystischer, kosmologischer und geometrischer Komponenten, vom Umgang mit Übergängen und Gegensätzen, Unbestimmtheit, welche Symbole, Riten und mystische Elemente haben hervorbringen lassen. Zuguterletzt weist er noch auf Deutungsfehler hin, die aus den Fragestellungen nach Zeit gründen und eine Bevorzugung von islamischen Elementen der Sprache durch frühere Forscher zeigen. Allein die Frage an einen Kabylen „..und dann?“ führt zu einer Antwort, in der der Gefragte versucht seine Zusammenhänge in einen zeitlichen Rahmen zu zwängen, der in seinen Lebenszusammenhang nicht existiert, um der Fragestellung des Forschers genüge zu tun. Und da diese Fragestellungen sich leichter durch arabische Begriffe für den Gefragten erklären lassen, die eher einem zeitlichen Verlauf darstellen können, was wiederum nicht dem Wert der gesprochenen Sprache der Kabylen entspricht, werden die Darstellungen allein durch die Sprachwahl der Kabylen verzerrt. Für die bisherigen Forscher war auch das Arabische leichter zu verstehen und es folgten Erklärungen, die die Deutung dahin legten, dass die eindeutigere funktionale Sprache des Arabischen die kabylische Sprache immer mehr verdrängen würde, da diese das Verständnis komplexere modernere Zusammenhänge ermöglichte. Was aber wiederum nicht der Wahrheit entspricht, sondern eine westliche von der eigenen Überlegenheit überzeugte Auslegungsweise ist.
Ich gehe hier noch nicht auf die von Bourdieu folgende Theorie ein. Dies wird später geschehen müssen. Denn erst ist es hier wichtig, den genauen Punkt zu finden, von dem Bourdieu ausgeht, den Punkt dessen, was ihn antreibt was er versucht zu beweisen und was er später in seiner Theorie vor uns ausbreitet.
Bei der Erforschung eines sozialen Gegenstandbereiches, geht es wie bei der Erforschung einer physikalischen Gegebenheit entweder um die Verifizierung einer Theorie – oder im Laufe der Erforschung um die Aufstellung einer neuen Theorie. Beides arbeitet sozusagen Hand in Hand. Ohne vorangestellte Theorie sind keine Tests oder Forschungsarbeiten möglich. Ohne eine Theorie ist nicht einmal klar, welches Werkzeug bei der Forschung benutzt werden kann. Das bedeutet der Forscher hat eine Vorstellung davon, womit er arbeitet. Im Laufe seiner Arbeit stellt er vielleicht neue Gegebenheiten, neue Ergebnisse fest, die ihn zwingen seine Theorie zu verändern. Oder gar eine neue Theorie aufstellen lässt, die es zu ergründen gibt. Mit Hilfe von Tests, Statistiken, Versuchsaufbauten und Versuchsreihen ,wird versucht Versuchsergebnisse zu erreichen, die genau zu den aufgestellten Theorien passen. Falls genügend Versuchsergebnisse vorhanden sind, die eine Theorie stützen, kann der Forscher diese Versuchsergebnisse veröffentlichen. Können andere anhand der genau definierten Versuchsparameter diese Ergebnisse nachvollziehen, gilt die Theorie, als in der Fachwelt bestätigt. Die Theorie wird allgemein angenommen. Dieser Aufbau hat eine strukturelle innere Logik, der kaum zu widersprechen ist und die im praktischen Leben sehr überzeugend ist. Diese Art des Forschens ist etwas anderes als bloße Herstellen eines Gerätes oder Werkzeugs, welches funktioniert. Ein funktionierendes Werkzeug trägt sozusagen seine Theorie und Versuchsparameter mit sich rum. Jeder der es auseinander baut, könnte mit genügend Vorwissen seine Funktion erraten und es eventuell nachbauen. Bei Rädern ist dies sicherlich leichter als bei Computern. Aber auch dort ist es durch Reverse Engineering möglich. Forschung durch Theorie, Versuchsreihen und Überprüfung durch Kollegen ist ein soziales Vorgehen, keine eventuelles Basteln oder Spielen wie vorher. Es ist ein durch die Jahrhunderte entwickeltes Verfahren, dass es ermöglicht wissenschaftlichen Fortschritt zu produzieren, dessen Ergebnis wir überall um uns herum vorfinden.
Die funktionale Denkweise, die diese Wissenschaft erst ermöglicht hat, folgt dem logischen Kalkül des Kausalität. Kausalität ist etwas, was man lernen und weitergeben kann. Und diese bezieht nicht nur physikalische Gegenstände und Gegebenheiten mit ein, sondern auch Personen und jedwede Handlung, die diese begehen können. Es ist eine Sichtweise die, worauf Gergen aufmerksam gemacht macht, es ermöglicht das Ich als soziale Konstruktion zu erkennen. Als etwas, was der Kausalität unterliegt. Genauso, wie die funktionale Sichtweise es ermöglicht Teile des Bewusstseins logisch funktional aufeinander zu beziehen und mit Eigenschaften zu versehen. Das menschliche Bewusstsein sozusagen auszudifferenzieren in Ich, Über-Ich, Eros und Todestrieb. Oder gar in die physikalischen Bestandteile des Bewusstseins, wie sie sich im Gehirn widerspiegeln. Im Bewusstsein des assoziativen Cortex in der Rückkopplung mit den emotionalen Zuständen des limbischen Systems. Die Auswirkungen gehen so weit, das die Menschen sich heute so verstehen, wie es die Wissenschaft ausdrückt, kausal, visuell geometrisch orientiert, in Testreihen. In Zeitschriften geht es darum, wie man seine Gehirnhälften besser ausnützen kann. In Berufseignungstests geht es nicht um soziale Fähigkeiten, sondern um visuelle Vorstellungsmöglichkeiten und Merkfähigkeiten. Kriminalfälle werden nicht aufgrund von Indizien, sondern durch logische Ketten bewiesen. Sprache wird nicht als ein Netzwerk zur Kommunikation, sondern als ein logischer Aufbau von Satzbauteilen verstanden. So ist es schon schwierig von Forscher zu erklären, wieso sich Sprachen überhaupt ändern können. Wirtschaftliche Prozesse werden aufgrund von statistischen Prozessen erklärt.
Noch ein Schritt weiter gehen in ihrer Diskussion Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, der „Dialektik der Aufklärung“. (7) Sie fragen sich, warum die Aufklärung, die Entzauberung des Herrschens in eine neue Herrschaft übergeht. Die der Objektivität. Die Aufklärung hat ihren eigenen Mythos, in der das Ich die Herrschaft an sich reißt, aber der wirkliche Herrschaftsbetrieb von der Monarchie in die Wirtschaftsführung übergeht. Die Herrschaft des Ichs ist ein Mythos des Konsums geworden und der Spruch der Objektivität dient der Herrschaft des Herrschaftsbetriebs. Alles folgt rationalen Grundeinstellungen und wirtschaftlichen Herrschaftsansprüchen. Den Arbeitern, die sich darin verlieren wird ein Sündenbock vorgestellt, der historisch leicht zu erkennen ist. Die Juden. Die Aufklärung kann die an sie herangetragenen Wünsche der Verbesserung des Menschseins nicht erfüllen, sondern in ihrer rationalen Denkweise kommt es zum effektivsten Völkermord.
Die Postmoderne macht nach Zygmund Bauman (8) daraus die Diagnose des nicht mehr Vorhandenseins von Ethik. In der Postmodernen Ethik ist die Moralität nur noch an den Einzelnen gebunden und an seine Erfahrung. Moralität kann nicht mehr auf universale Regeln gründen, weil die Regeln, die die Sprache erschaffen, unser Bewusstsein und unsere Erfahrungen binden, und daher nicht die allgemeingültigen Regeln der Gesetze bilden können. Erst die Entdeckung des Antlitzes des Anderen, worauf er sich auf Emmanuel Levinas bezieht, führt zur Entdeckung der Toleranz und einer festen Moralität. Das Erwachen der Moralität daher die Ernüchterung und das Verlassen der geregelten Welt. Ich werde auf mich selbst geworfen durch den Antlitz des anderen.
Klar wird hier, dass die funktionale Sichtweise etwas neues in der Welt der Menschen ist. Sie formt den Menschen, sein Ich und sein Bewusstsein, seine Arbeitsweise, seine Versorgung mit Gütern, seine Wissenschaft. Und – sie ist schuld an dem konsequent durchgeführten Völkermord der Juden und an der Unfähigkeit danach, nach so einem Vorfall, überhaupt über ethische Maßstäbe diskutieren zu können, ohne sich verdächtig zu machen. Weil die Diskussion darüber nur in der gleichen funktionalen Sichtweise passieren kann, wie die die daran überhaupt schuld ist. Deshalb wird überhaupt von Dekonstruktion geredet, weil es gilt etwas zu dekonstruieren. Was aber auch gleichzeitig die Basis jeder Diskussion ist. Die Aufklärung tötet ihre Kinder. Wie wahr.
Die ganze Darlegung Baumans ist eine Kritik der funktionalen Sichtweise und ihrer Beeinflussung dessen, was wir unter uns verstehen. Doch wir reden nur immer wieder über die Menschen, die Personen, das Ich, das Bewusstsein. Und gleichzeitig über die Dinge, die uns beeinflussen. Wir stehen in der Tradition der Aufklärung und reden – über uns. Wir sind in einer historischen Falle, die uns die Mystik der Aufklärung gestellt hat. Darum ist Bourdieu wichtig! Er legt den Finger auf die Sprache und fragt nach deren Hintergrund. Er drückt sich noch nicht so klar