Für Thea war es ungewöhnlich, der Walküre gegenüber zu stehen, ohne dass diese ihre goldschimmernde Rüstung trug. In einem Kleid wirkte Wal-Freya beinahe verletzlich und nicht wie die tapfere Kriegerin, als die Thea sie kennengelernt hatte. Dennoch büßte Wal-Freya nichts von ihrer imposanten Erscheinung ein. Den Kopf gesenkt ließ sie ihre Schülerin nicht aus den Augen. Thea hingegen hatte das Gefühl für Zeit schon lange verloren. Es musste etwa eine Stunde vergangen sein, seit sie so vor der Walküre stand, gefangen im Versuch Kyndills Mächte zu bändigen.
Als sie die Situation kaum mehr ertragen konnte, wurde die Tür des Zimmers aufgerissen und Juli steckte den Kopf hinein. Thea drehte sich zu ihr um und lächelte, Wal-Freya allerdings rollte die Augen. Verärgert stemmte sie die Hände in die Hüften.
„Juli“, seufzte sie. „Was an den Worten ‚du sollst nicht stören‘ ging nicht in deinen Schädel?“
Juli ließ den Finger an der Schläfe kreisen. „Ab ‚du sollst‘ ist alles verschwommen“, erwiderte sie herausfordernd. Nachdem Wal-Freyas Blick eindringlicher wurde, lachte Juli. „Jetzt komm schon, Wal-Freya! Ihr seid schon eine Ewigkeit hier drin! Das ist kaum auszuhalten! Dieses Seidr-Ding nervt!”
„Das Seidr erlernt man nicht in fünf Minuten, Juli. Zauberei muss mit allen Sinnen gefühlt werden.“
Ein weiterer Kopf erschien in der Tür. Tom lugte vorsichtig in den Raum und trat ein. Er trug noch immer die Kleider, die er von Frigg für sein Abenteuer in Jötunheim bekommen hatte. Eine helle Hose, die von Wadenwickeln umschlossen wurde und eine schwarze Tunika mit einer blauen Untertunika. Nur auf das Kettenhemd und den schwarzen Umhang hatte er verzichtet. Kurz nach ihm tauchte eine dritte Person auf. Sie war etwa in Theas Alter. Ein rotes Gewand, mit schwarzen Borten und Mustern aus goldenem Faden verziert, verhüllte ihren Körper.
„Hallo Thea? Hat es endlich geklappt?“, fragte sie.
„Baba! Du bist hier?“
Die jüngste der Baba Jagas lächelte. „Schon eine Weile.“
Fröhlich trat Thea einen Schritt auf das Mädchen zu und umarmte sie, ohne Kyndill dabei aus der Hand zu nehmen. In den vergangenen zwei Wochen waren sie zu engen Freunden geworden. Nachdem Odin Thea den Wunsch verwehrt hatte, nach Midgard zurückzukehren, brach eine Welt für Thea zusammen. Da sich Loki und Fenrir auf freiem Fuß befanden und Thor in Jötunheim geblieben war, wollte Odin Kyndill in Asgard wissen. Es war Wal-Freya und ihren Freunden zu verdanken, dass Thea nicht verzweifelte, aber auch den Baba Jagas. Thea, Tom und Juli hatten die dreifaltige Göttin oft besucht. Während die Asen fortwährend über das weitere Vorgehen berieten, hatten sich die Jugendlichen angefreundet.
Der Plan der Asen bestand darin, dass Thea und Wal-Freya ins Totenreich Hel reisen sollten, um Balder zu befreien. Ein Vorhaben, mit dem sich Odin zunächst einverstanden erklärt hatte, später jedoch daran zweifelte. Zu viel stand auf dem Spiel, wenn die Unternehmung misslang und er die Totengöttin gegen die Asen aufbrachte. Er hatte eine Völva aufgesucht und sie um Rat gefragt. Diese hatte von einem alten und längst vergessenen Pfad ins Totenreich erzählt, mit dem es Wal-Freya und Thea möglich wäre, Hel ungesehen zu betreten - ein versteckter Zugang, der angeblich weit entfernt am äußersten Zipfel Niflheims lag. Ihren Worten folgend hatte Odin Hermodr nach Niflheim geschickt, um jenen Weg zu finden. Bereitwillig war Hermodr auf Odins Pferd Sleipnir davongeeilt. Seitdem wartete Thea ungeduldig auf Hermodrs Rückkehr, denn jeder Tag, den er länger nach dem geheimen Pfad suchte, bedeutete für sie einen Tag länger von ihrer Familie in Midgard getrennt zu sein. Bevor Wal-Freya Thea für sich vereinnahmte, um ihr Seidr zu schulen, waren die Freunde stets zusammen in Asgard aufzufinden gewesen. Thea genoss die Zeit mit ihnen. Es lenkte sie von der verantwortungsvollen Aufgabe ab, die vor ihr lag. Nie zuvor spürte sie die Hoffnungen und Erwartungen der Götter schwerer auf sich lasten als in dieser Zeit. Thor war in Jötunheim geblieben, Freyr hatte sein magisches Schwert einst an seinen Diener verschenkt. Thea besaß die einzige Waffe, die in Odins Augen Schutz in Hel bot. Zwar konnte Odin Gungnir, einen magischen Speer, sein Eigen nennen, doch alle Asen vertraten die Meinung, dass der Göttervater nicht nach Hel gehen dürfe. Von einen auf den anderen Tag war Thea somit zur Hoffnungsträgerin der Asen geworden. Man behandelte sie mit großem Respekt, die Einherjer neigten sogar die Köpfe vor ihr. Für Thea jedoch ein schwer zu ertragendes Schicksal. Auch wenn Wal-Freya es anders sah, sie war nur ein Mädchen, noch lange nicht erwachsen und zu alledem ein einfacher Mensch. In den Momenten, in denen sie mit Tom, Juli und Baba Jaga durch Asgard streifte, wenn sie im Haus der Baba Jagas einfach nur lachten, kochten und die Stunden bei fröhlichen und alten Geschichten verbrachten, war Thea in der Lage, ihr Schicksal anzunehmen. Dann dachte sie nicht voller Sehnsucht an ihre Familie, die sie in Midgard hatte zurücklassen müssen.
Juli richtete den Finger auf Kyndill. Anders als Thea war es Juli gelungen, sich Wal-Freyas Kleiderordnung erfolgreich zu widersetzen. Sie trug eine Hose unter dem Überkleid, das sich nur in der blauen Farbe von Theas unterschied. „Wenn du dich damit beeilen würdest, wüsstest du, dass Baba schon seit einer Stunde auf dich wartet!“
Wal-Freya stellte sich vor Thea und legte die Hand an die Tür. Juli stemmte den Fuß dagegen, um zu verhindern, dass Wal-Freya die Freunde aus dem Zimmer schob.
„Es wird nie funktionieren, wenn ihr ständig kommt und sie unterbrecht“, sagte Wal-Freya eindringlich.
„Ständig?“, wiederholte Juli. „Das ist das erste Mal!“
Ein Lächeln huschte über Wal-Freyas Lippen. „Seit heute.“
Baba Jaga verzog das Gesicht. „Vielleicht lässt sich Kyndill nicht beherrschen. Es ist ein Zauberschwert. Möglicherweise hat es einen ungezügelten Willen, ganz wie das Element, das es in sich trägt.“
Es war Wal-Freyas Absicht, dass Thea lernte, Kyndills Kräfte zu kontrollieren und die Flamme, die in ihm wohnte, zu bändigen. Sie hoffte, dass Thea mit dieser Fähigkeit in Hel weniger Aufsehen erregen würde, denn das Zauberschwert entfaltete selbst dann seine Kraft, wenn Thea es nur leicht berührte. Seit Tagen gängelte Wal-Freya sie zu üben. Der Erwartungsdruck, der auf Thea lastete, trieb ihr das eine oder andere Mal Tränen in die Augen, doch die Wanengöttin blieb unerbittlich.
„Jedes Feuer lässt sich kontrollieren, wenn man ihm ein gutes Gefäß baut“, beharrte Wal-Freya.
„Ich kenne ein paar Häuser mit festen Kaminen, die aufgrund eines einzigen Funkenflugs niedergebrannt sind“, erwiderte Baba Jaga. „In Kyndill brennt kein gewöhnliches Feuer, es ist das Feuer eines Drachen. Dessen Natur ist ebenso unberechenbar und gefährlich wie das Element, das in Kyndills Klinge gebunden ist.“
Wal-Freyas Blick blieb fest. „Es muss funktionieren! Wenn Thea in der Unterwelt damit herumspielt, fliegen wir eher auf als uns lieb ist.“
„Wir sind schon überall ziemlich schnell aufgeflogen“, erinnerte Juli.
„Und haben stets überlebt“, pflichtete Thea bei, was ihr einen rügenden Blick von Wal-Freya einbrachte.
„Ziemlich knapp, wenn ich dich daran erinnern darf, junge Dame! Noch einmal möchte ich sowas wie in Jötunheim nicht