„Bei …?“, hakte Mrs. Duncan hoffnungsvoll nach.
„Bei … den Mooney Falls. Dort ist sie gerne.“, redete sich Steven heraus. Er machte sich los, inzwischen war es hell genug, und er wollte sofort nach ihr suchen. Obwohl er barfuß und im Schlafanzug war – keines der Kinder hatte es geschafft, noch etwas zu retten, es hatte schnell gehen müssen – rannte er los in Richtung der Mooney Falls. Immer wieder rief er Kristinas Namen, in der Hoffnung, sie würde ihm antworten, doch alles blieb still. An den Mooney Falls angekommen wandte er sich in Richtung des Lagers der Indianer, in der Hoffnung, dass sie ihren Standort noch nicht gewechselt hatten.
Erschrocken erkannte er schon aus der Ferne Stimmen, die offenbar von dem Lagerplatz kamen. Und diese Stimmen waren eindeutig Soldaten, der befehlsgewohnte Ton zeigte ihm das bereits aus dieser Entfernung, obwohl er kein Wort verstehen konnte. Vorsichtig schlich er sich näher und sah, dass etwa zwanzig Soldaten jeden Grashalm umdrehten. Die Zelte, die Ponys, der kleine Wagen, die Indianer – alle weg. Allerdings wohl nicht sehr lange, denn er konnte sehen, wo die Zelte gestanden hatten, dort war das Gras noch plattgedrückt. Wohin waren sie gegangen? War Kristina bei ihnen gewesen und gar nicht zurück gekommen in der Nacht? Gestern hatten sie nicht gemeinsam gegessen, denn sie hatten nicht gleichzeitig Schluss gemacht mit der Arbeit. Daher könnte es sogar sein, dass Kristina nicht dagewesen und es nicht aufgefallen war. Steven war sich dessen bewusst, dass er sich gerade an Strohhalme klammerte, aber er wollte einfach nicht glauben, dass Kristina tot sein sollte.
„Lieutenant, das Lager war eindeutig hier.“, meldete gerade einer der Soldaten. Steven spitzte die Ohren, vielleicht erfuhr er jetzt etwas.
„Die gleiche Gruppe, die wir bei den Wasserfällen gesehen haben?“, wollte derjenige wissen, den der Soldat als ‚Lieutenant‘ angesprochen hatte.
„Die Spuren deuten darauf hin.“, bestätigte ein Indianer, der offenbar als Scout arbeitete. Er trug die Haare so, wie die Weißen es taten, auch keine Lederkleidung, wie sie typisch für Indianer war. Nur die bronzene Haut, die dunklen Augen und Haare sowie sein Akzent zeigten, dass er ein Indianer war. So ganz anders als die freien Indianer, wie Steven sie kennen gelernt hatte.
„Aber wo sind sie hin?“, fauchte der kommandierende Lieutenant.
„Das kann ich nicht sagen, Sir, hinter dem Wasserfall gab es keinerlei Spuren.“, entschuldigte sich der Scout.
Wütend knurrte der Anführer der kleinen Einheit, doch schließlich befahl er den Rückzug, denn er war der Meinung, sie wären schon längst über alle Berge. Steven ließ den angehaltenen Atem erst entweichen, als alle Soldaten verschwunden waren. Leider wusste er nun immer noch nicht, ob Kristina bei den Indianern gewesen war oder nicht. Musste er nun davon ausgehen, dass sie tatsächlich tot war? Das wollte er nicht wahrhaben, lieber glaubte er daran, dass sie bei den Indianern gewesen war. Egal wie unglaublich diese Hoffnung war, egal, dass er sie nie mit jemandem teilen konnte, er brauchte es, um selbst nicht die Hoffnung zu verlieren. Kristina bedeutete ihm weit mehr als jeder andere Mensch, und es tat unglaublich weh, sie zu verlieren. Traurig trottete er zurück zu den Überresten des Waisenhauses. Mrs. Duncan stand mit dem Mayor und dem Sheriff an der Seite, sie schienen zu diskutieren. Steven wurde klar, dass es sicherlich darum ging, wo die Kinder nun unterkamen. Die Heimleiterin blickte ihm entgegen, doch er schüttelte nur verzweifelt den Kopf.
„Nein.“, hauchte Mrs. Duncan.
„Ich habe sie nirgends gefunden.“, bestätigte Steven heiser. „Was wird jetzt?“
„Das versuche ich gerade mit dem Sheriff und dem Mayor zu klären.“, entgegnete Mrs. Duncan. „Aber es wird sehr schwer. Vorerst überlassen sie uns die kleine Gemeindehalle, doch das ist keine wirkliche Lösung. Ich fürchte, ich muss sehen, dass wir woanders vollkommen neu anfangen können. Es wird schwer mit so vielen Kindern.“
„Ich werde nicht weggehen. Ich will hier bleiben.“, hörte sich Steven sagen. Es war en Trotz und ein wenig die Verzweiflung, die aus ihm sprachen, denn er wusste, wenn er hier wegging, war jede Hoffnung, Kristina jemals wiederzusehen, verloren.
„Dann wirst du sicherlich den Soldaten auffallen. Und wie willst du dich ernähren? Wo willst du schlafen?“, sorgte sich die Heimleiterin.
„Ich werde mir eine Farm oder Ranch südlich von hier suchen und dort um Arbeit bitten. Ich kann zupacken und hart arbeiten.“, entschied der Vierzehnjährige.
Sie beide wussten, dass er noch nicht volljährig war und eigentlich keine eigene Entscheidung treffen durfte, und doch war klar, dass es wohl so passierte, wie er es sagte, denn wenn sie ihn mitnahm, wurden die Soldaten noch deutlich eher auf ihn aufmerksam als so. Durch seine Größe und sein entschlossenes Auftreten wirkte er mindestens zwei oder gar drei Jahre älter, wäre also mehr als interessant für die Armee. Eine andere Zukunft wartete nicht auf ihn, entweder wurde er irgendwo auf einer Farm, einer Ranch oder in einer Fabrik angestellt, oder er kam zu den Soldaten. Zwar konnten alle ihre Kinder ab einem gewissen Alter Lesen, Schreiben und Rechnen, aber sie hatten keine intensive Schulbildung genossen. Fähigkeiten, die sie im späteren Leben brauchten, waren immer im Vordergrund gestanden.
„Pass auf dich auf.“, umarmte sie ihn.
„Vielen Dank. Für alles.“, erwiderte Steven die Umarmung.
Der Mayor, der zugehört hatte, bot ihm an, wenigstens noch einmal ins Dorf zu kommen, denn es gab sicher eine Möglichkeit, dass er einige Kleidungsstücke bekam, damit er nicht im Schlafanzug durch die Wildnis musste. Nur widerwillig sagte Steven zu, ihm war bewusst, dass er mit seiner Kleidung nicht weit kommen würde, wollte aber nicht länger hier bleiben. Ihn zog es weg von hier, als würde er spüren, dass Kristina nicht mehr hier war. Ohne das Mädchen wirkte alles irgendwie trostlos.
Eine letzte Hoffnung blieb ihm noch. Sein Blick fiel auf Jessica, die in seiner Nähe stand und ziemlich geschockt wirkte. Schnell trat er zu ihr. „Jessica, hast du Kristina gesehen?“
„Ich bin nicht sicher.“, antwortete die Rothaarige. „Gestern am Tag war sie nicht da, aber ob sie im Bett war, kann ich nicht sagen. Ich war so müde, dass ich nicht darauf achtete, vor allem, weil ich ins Bett ging, als alles schon dunkel war. Tut mir leid, ich weiß es wirklich nicht. Ich wünschte, ich könnte etwas Anderes sagen, aber das kann ich leider nicht.“
Jetzt war jede Hoffnung für Steven verloren, und sein Entschluss stand fest. Er würde Mrs. Duncan verlassen und sich eine Arbeit suchen. Aufgeben kam nicht in Frage, das war er Kristina schuldig, die das Leben so sehr geliebt hatte. Nun musste er für sie weiter leben. Und das konnte er hier nicht, zumindest nicht sofort. Sobald er konnte, würde er gehen. Vielleicht war Kristina wirklich mit den Indianern verschwunden, aber wenn die Soldaten sie nicht finden konnten, hatte er keine Möglichkeit. Irgendwann könnte er zurückkehren und nachforschen, aber im Moment würde das möglicherweise die Soldaten auf die Spur führen, und das durfte er auf keinen Fall. Er hatte es Raven versprochen. Und auch Kristina wäre dann in Gefahr, wenn sie mit ihnen unterwegs sein sollte. Nein, es war besser, er ließ erst einmal Gras über die Sache wachsen.
2. Der Beginn eines neuen Lebens
Steven ließ sich dazu überreden, noch eine Nacht im Ort zu schlafen, dann war er aufgebrochen. Er hatte Lederbekleidung bekommen, wie Trapper sie trugen. Sie war ein wenig breit, aber alles andere hatte in der Länge nicht gepasst, da er sehr groß, wenn auch schmal war. Außerdem hatte er sogar ein Bowie-Messer bekommen, es war noch vom verstorbenen Sheriff Carlsen. Der neue Sheriff hatte es ihm überlassen, weil er sich Sorgen machte, wenn ein Jugendlicher alleine den Weg über die Berge nahm. Aber sie konnten ihm keine andere Möglichkeit bieten, daher hielt keiner ihn auf. Was nun mit den Kindern und Mrs. Duncan werden würde? Steven wusste es nicht, denn er war gegangen, bevor eine Entscheidung getroffen wurde.
Inzwischen war er seit mehreren Tagen unterwegs und hielt sich, so gut es ging, Richtung Süden. Bisher hatte er keinen Menschen getroffen, nur ein altes, verletztes Reh, das er erlöst hatte. Heute Abend hatte er genug zu essen. Viel Holz gab es hier nicht, aber er bekam genug zusammen, um ein Feuer zu schüren