Eben als Matze sich in diesem kleinen thüringischen Dorf Vollersroda unterm Dach des alten Schulhauses einzurichten begann, lernte er Feininger kennen. „Der muss noch keine zwanzig gewesen sein“, überlegte er. Matze war also nur wenig älter als Feininger, fast gleichaltrig. Dieses Schulhaus war Matzes erste eigene Wohnung überhaupt, er war jung und wollte dort ankommen in diesem Dorf, diesem Strassendorf auf luftiger Höhe. Zu arbeiten begann er an der neu eröffneten Zentralschule Legefeld, Luftlinie zwei Kilometer. Der Feininger begegnete ihm zufällig, so nebenbei, allerdings war dieser Umstand entscheidend und ohne ihn hätten seine Tagesaufgaben weniger Sinn gehabt.
Das Vollersrodaer Schulhaus sah ganz passabel aus und im Dachgeschoss hatte er rund 130 Quadratmeter zur Verfügung. Gebaut wurde die Schule ums Jahr 1910. Sie war durch den umlaufenden Fachwerkaufsatz in der ersten Etage ein respektables Gebäude. Blickfang des Hauses war das halbrunde Eingangsportal, durch das Generationen von Schülern hindurchgegangen sein mussten. In Matzes Zeit gab es hier keinen Unterricht mehr, die kleine Dorfschule hatte ausgedient. Sie haben irgendwann das ehrwürdige Portal aus Sicherheitsgründen zugemauert, später wieder freigelegt. Keine dreihundert Menschen wohnten hier, aber die Schule neben der Kirche ist wie in vielen Orten das zweitwichtigste Gebäude im Ort. Kirche und Schule auf Augenhöhe, Lehrer und Pfarrer konnte sich auf kurzem Wege einigen, ob die ihnen anvertrauten Kinder wahlweise auf Vaterland, Gott, Kaiser, die Republik, Krieg oder Frieden auszurichten waren.
Den Feininger konnte er gut sehen von seinem großen Dachgeschoss aus, so schien es jedenfalls. Er fiel auf, obwohl er überhaupt nicht auffallen wollte. Aber, wer setzte sich sonst schon am hellen Tage da irgendwo hin im Dorf, um zu zeichnen, zu skizzieren. „Hier muss er gesessen haben“, überlegte Lehrer Matze. Dieser noble, hochgewachsene Mann mit breikrempigem Hut, einen Zigarrenstummel im Mund. Er hantierte zurückhaltend und versunken mit seinen Werkzeugen, mit Notizblock, Quartheft, Bleistift oder Kohle. Die Strasse, die war Mitte der siebziger Jahre, als Matze sie betrat selbstverständlich asphaltiert. Zu Feiningers Zeit war es anders. Jedenfalls war die Dorfstrasse von seinen Fenstern aus gut nach beiden Seiten hin einzusehen. Er konnte beinahe den gesamten Strassenverlauf überblicken, was sonst im Ort niemand konnte. Feininger saß mit seinem Klappstühlchen mal vor, mal hinter der Kirche oder der Schule gegenüber, Billebs Hof im Rücken. Ein winziger Dorfplatz in der Dreiecksausrichtung von Kirche, Schule und Hof. Manchmal ging der Maler zweihundert Meter Richtung Buchfahrt aus dem Ort heraus. Dann blickte er auf den Ort zurück, nordwärts, dann hatte er links die alte Kirche, rechts das Schulhaus und die Straße führte abwärts gen Weimar. So lernte er ihn kennen, auf oder hinter dem Dorfplatz im Oberdorf sitzend. Kirche und Schulhaus und Billeb, das waren die ältesten Fixpunkte im Dorf. Alles in eine lockere Dreiecksanordnung eingebunden, das geistige Zentrum des Ortes. Dagegen waren am Dorfeingang, von Weimar her, ein Fleischer, Getreidehändler, Bierausschenker, das Dorfbackhaus, die Post zu finden.
Feininger hatte allen Grund beschwingt von Weimar aus loszulaufen. Er hatte das Elend des Krieges überstanden, zeitweise war er als Amerikaner staatenlos, jetzt hatte ihn Gropius zum Bauhaus-Meister gemacht. Es war tatsächlich so: Montag Nachmittag ging ich nach Vollersroda allein und habe gezeichnet. Es war herrliches, warmes Wetter, und ich war 3 ½ Stunden unterwegs ... So etwas ist mir ganz ungewöhnt, seit 5 Jahren, und ich bin erstaunt, wie schnell ich mich wieder gewöhne, gut zu laufen…
Etwa einen Monat später schon erfuhr seine Frau Julia, die ja noch mit den Kindern in Berlin lebte: Überhaupt ich erlebe, ich lebe; ich bin jeden Augenblick am Tage wacher, gieriger, Mensch ach, wie bin ich am gesundwerden hier…
2 Briefe an Julia
Feininger meinte, er würde mehr das Geistige der Kunst, Gropius dagegen mehr das Handwerkliche im Blick haben. Irgendwie fanden sie zu gemeinsamer Sprache. Jedenfalls erfuhr Julia, die doch selbst ausgebildete Malerin und Künstlerin aus gutem Hause war, dass Walter Gropius und dessen extravagante Frau Alma den Maler Feininger vollkommen respektierten und ihm die eigene Welt belassen würde. Mit Gropius käme das Staatliche Bauhaus in Fahrt und Lyonel würde der Künstler sein, dessen Stilistik und Komposition den Vorstellungen des umtriebigen, viel jüngeren Gropius` sehr genau entsprachen. Die beiden kannten sich vom Arbeitsrat für Kunst in Berlin, das Programm hatte auch Feininger mit unterschrieben: Kunst und Volk müssen eine Einheit bilden. Die Kunst soll nicht mehr Genuss Weniger, sondern Glück und Leben der Massen sein…
Auf solche Positionen konnten sie sich damals einigen, die Architekten, Maler, Bildhauer, Musiker, Filmleute.
„Wieviel Einigkeit da bestanden hatte“, überlegte Matze, „es fängt ja immer mit einer gemeinsamen Idee an. Hauptsache ist wohl, das alles auch durchzuhalten“. Gropius und Feininger lernten sich auf diese Weise kennen und Feininger hatte dem Programm seinen Holzschnitt „Rathaus von Swinemünde“ beigesteuert. Und dann flog doch wieder alles auseinander.
Gropius ließ nicht locker. Der Organisator Gropius, der die Fäden spann, der Leute nach Weimar holte und der Öffentlichkeit klarzumachen suchte, welches Gesamtkonzept von Leben und Kunstgestalten sie sich da auf ihre Fahnen geschrieben hatten, dieser Gropius… Aber Feininger war hochgestimmt in diesem Frühling. Der Krieg war vorüber, endlich. Vielleicht würden die Freikorps-Rebellen ihre Gewaltakte auf den Strassen einstellen, die Lage sich beruhigen.
Wieder war Walter Gropius mit einem Programm, mit einem Manifest sogar, zur Stelle. Er wollte junge, kreative Menschen ausbilden, als gute Antwort nach dem Krieg. Und dem Gropius steckten Militär und Verwundung noch besonders schwer in den Knochen. Jetzt schreibt er in seinem Bauhaus-Manifest: Wollen, erdenken, erschaffen wir gemeinsam den neuen Bau der Zukunft…
Feiningers eigentliches Manifest, das waren seine Briefe. Die Briefe, die er immerzu an Julia nach Berlin schickte. Julia kannte die Intentionen ihres Mannes, sie konnte ihn verstehen. Julia hatte ihren Mann doch überhaupt erst zur ernsthaften Malerei gebracht. Sie wußte, seine ewigen Karikaturen, seine spitzfindigen Satirezeichnungen, dabei sollte es nicht bleiben. Julia hatte vielleicht auch mit ihrem vermögenden Vater einen heimlichen Deal abgesprochen. Sie würde ihren Mann ernsthaft zur Malerei bringen und Vater Berg, Julias Vater, unterstützte das junge Paar mit seinem Geld. In den Briefen legte er präzise dar, wie seine künstlerischen Aktivitäten gelingen konnten, wie sein Tagesablauf aussah, was ihn bedrückte. Und in seinen Natur-Skizzen hielt er wesentliche architektonische und räumliche Eigenheiten seiner Beobachtungen fest. Und er war ordentlich kritisch gegen sich selbst. Er arbeitete unablässig an seiner künstlerischen Vervollkommnung.
Als Lehrer Matze diese Briefe Feiningers das allererste Mal in die Hand bekam, war er erstaunt über diese Gedankenfülle des Briefeschreibers und den exakten Schreibstil, den der Maler da anschlägt. Von 1905 an bis zum Jahr 1935 gibt es Feininger Briefe. Dieser Feininger, dieser blitzgescheite Mann war da in diesem Nest Vollersroda auf und ab gegangen. Er hatte hier gesessen und alles Wesentliche dieses Ortes auf Papier, Leinwand oder als Holzschnitt festgehalten. Die Kopien der Briefe hatte Matze vom Freund und Lehrerkollegen Wolfgang Siebert aus der Bundesrepublik nach Weimar, also Vollersroda mitgebracht bekommen. „Was für ein Schatz, diese Briefe“, Matze konnte es gar nicht oft genug ausrufen, welche Kostbarkeit er da geschenkt bekam.
Für Wolfgangs Arbeit, der damals Musiklehrer an einem Gymnasium in Esslingen war, hatte sich Matze schon als Student interessiert. Es kam so: Zweimal im Jahr kam eine Musikzeitschrift an Matzes Vater, eine Musikzeitschrift aus dem Westen. Irgendwie hatte es sich ein westdeutscher Verlag zur Aufgabe gemacht, an den ostdeutschen Musikpädagogen Dr. Friedrich, Matzes Vater, eine kostenfreie Sendung an Publikationen zu schicken. Sie lasen also offenbar im Westen auch die Aufsätze, die sein Vater in Deutschland Ost publizierte und waren ermuntert, weil sie deutsch-deutsch dachten, Bücher und Zeitschriften über die Grenze zu schicken. Was für eine interessante Lektüre, diese musikpädagogischen Hefte aus einem westlichen Verlag. Was die da alles in den höheren Klassenstufen ihren Schülern vermitteln konnten.
Es war dann dieser eine von Siebert publizierte Aufsatz, von dem sich Matze als junger Lehrerstudent so angesprochen fühlte, dass er kurzerhand dem Lehrer im fernen Westdeutschland