Links von mir saß ein alter Mann. Ich hatte in der vergangenen Woche ein paarmal mit ihm am Tisch gesessen. Er spielte sehr vorsichtig. Seine Gewinne waren klein, seine Verluste waren klein. Ich nahm an, er käme nur ins Casino, um die Zeit totzuschlagen, die ihm vom Leben blieb. Das fortgeschrittene Alter war an sich egal, weil er drei Kinder hatte, zwei Töchter, einen Sohn. Aber die wohnten alle viel zu verstreut. Ich suchte einen richtigen Herrn, wenn schon nicht mit Familienstammsitz, so doch wenigstens mit einem Haus.
Rechts von mir saß ein weiterer Profi. Scharf geschnittenes Adlerprofil, dunkle gegelte Haare, dicke goldene Ringe an den Fingern. Die anderen Profis nennen ihn ‚Protzke‘. Er hat keine Familie und hatte mir auch mal gestanden, dass er schwul ist. Das war während meines ersten Aufenthalts in Baden-Baden gewesen.
Als Protzke am heutigen Abend ankam, sah ich, wie er sich draußen von einem anderen Mann verabschiedete, der etwa zehn Jahre jünger war. Die beiden waren tatsächlich Hand in Hand durch die Kolonnaden gekommen. Vor zehn Jahren hätte es das noch nicht gegeben.
Blieben die beiden jungen Männer zwischen dem Scheich und Protzke übrig. Ich hatte sie Pat und Patachon getauft. Einer war groß und schlank, sehr kontrolliert in seinen Bewegungen. Der Denkertyp. Der andere war füllig, redete immer mal wieder jovial mit Protzke oder dem Ami. Er war der typische Ich-will-nur-meinen-Spaß-Spieler.
Der dicke Amerikaner guckte gerade zum zweiten Mal in seine Karten und schwitzte vor sich hin. Selbst jemand, der nicht meine Begabung besaß, erkannte sofort, dass er ein Spitzenblatt hatte, das nicht mehr zu schlagen war. Der Scheich neben ihm schien aber nichts zu ahnen. Er sagte: „Raise!“ und schob 1000 Euro in Chips in die Mitte. Ich hatte Muße, mir diese Show anzugucken, denn ich hatte bereits vor dem Flop meine Karten dem Dealer rübergeschoben. Keine guten Karten für die einzige Frau am Tisch. So ging es schon den ganzen Abend.
Bis zum River spielten die beiden Geldverteiler am Tisch um 25000 Euro. Der Ami hatte ein Full House und grinste über das ganze Gesicht.
Ich guckte in mein nächstes Blatt, fand wieder nur Müll und schob meine Karten zur Seite, sobald ich an der Reihe war. Ich lächelte zu dem langen Denkertyp rüber, der im sogenannten Big Blind saß, wo man einen Standardeinsatz bringen muss. Viele Anfänger sehen es als Pflicht an, in diesem Fall in der Hand zu bleiben und dem schlechten Geld gutes hinterher zu werfen. Der Denker nicht. Der schob seine Karten dem Dealer zu, blickte auf und lächelte mich an.
Ich hatte das oft genug erlebt. Als Frau ist man selbst heutzutage ein seltener Falter am Pokertisch, und viele Männer fühlen sich offenbar geradezu verpflichtet, einen dummen Anmachspruch loszuwerden. Aber der junge Mann gegenüber lächelte nur still vor sich hin und sagte gar nichts. Das erledigte sein rundlicher Begleiter.
„Na, Lady, kein Kartenglück heute?“ Ich schaute ihn nur betroffen an. „Macht nichts, Pech im Spiel, Glück in der Liebe.“
Die älteste Kamelle der Welt. Ich verdrehte die Augen in Richtung Kristalllüster.
„Kann ich Ihnen einen Drink spendieren?“, fragte mich der dickliche Typ.
„Nein, kein Bedarf“, antwortete ich und konzentrierte mich wieder auf seinen schlanken Begleiter.
Der andere aber gab nicht auf. „Wir kommen aus Freudenstadt“, sagte er. „Wenn das kein gutes Omen ist, weiß ich auch nicht.“
Ich wandte dem Typen, der nicht begreifen wollte, dass ich kein Interesse an ihm hatte, jetzt mein Gesicht zu und schaute ihm direkt in die Augen. Ich kann mit meinem Blick zwar niemanden zu Stein erstarren lassen, aber man sagt, ich könne dafür sorgen, dass Menschen ihre eigene Seele erkennen. Wenn das stimmte, musste der dickliche Kerl jetzt irgendetwas Schleimiges mit Tentakeln in meinen Augen sehen. „Willst du es mir gleich hier auf dem Tisch besorgen?“, fragte ich mit freundlicher Stimme.
Protzke lachte schallend und der Alte links von mir gab ein meckerndes Geräusch von sich, das wohl auch ein Lachen sein sollte.
„Leg dich nicht mit Rabenschwinge an, Kleiner“, sagte Protzke noch.
Der Dicke wurde erst rot, dann blass. Danach nahm er einen Stapel seiner Chips und begann zu sortieren und umzuschichten, während er an mir vorbei an die Wand blickte.
„Ich hab’s dir doch vorher gesagt“, wandte sich der Lange plötzlich an seinen Begleiter. „Freudenstadt ist Provinz. Damit kannst du in einem so mondänen Kurbad keinen Eindruck schinden.“ Er sagte es laut genug, so dass wir anderen am Tisch es auch hören konnten. Das Ironie-Schild musste er nicht extra hochhalten.
„Also, wie können wir unseren Fehler wieder gut machen? Ich muss allerdings gleich sagen, für eine Runde Champagner reicht unser Budget nicht.“ Er lächelte in die Runde.
„Dann spendierst du uns halt ein Bier“, brummte Protzke jovial. „Aber erst wird hier geraised.“ Er schob ein paar Chips in die Mitte.
Während das Spiel weiterging, bestellte der junge Mann eine Runde für den Tisch. Alle außer dem Alten und mir nahmen Bier. Der Alte trank ein Wasser, ich ein Ginger Ale. Während ich den ersten Schluck nahm, fragte ich mich, ob dieser junge Mann wohl als neuer Herr geeignet sei. Er sah gut aus, war schlank, aber durchaus muskulös. Sicherlich machte er irgendeinen Sport.
Der Schlanke hatte gepasst und schaute zu mir rüber. Ich prostete ihm mit meinem Ginger Ale zu, lächelte freundlich und sagte: „Wie heißt ihr beiden Provinzler denn?“
„Ich bin Daniel“, antwortete er, dann wies er mit dem Daumen auf den Dicken an seiner Seite, der gerade seine Karten zusammenschob und erklärte: „Und das ist Christian. Er hat heute nicht seinen besten Tag. Eigentlich ist er ganz nett.“
Christian guckte, als ob sein Begleiter ein Außerirdischer wäre.
Neue Karten, neues Glück.
„Raisy Daisy“, Protzke kopierte wieder sein großes Vorbild, Sammy Farha, einen amerikanischen Profi, der hin und wieder im Fernsehen zu bewundern war.
Ich schüttelte den Kopf und sagte gelangweilt: „Aber du spielst wenigstens mit eigenem Geld, wenn du anderen schon die Sprüche klauen musst?“
„Letzte Nacht wieder schlecht geschlafen, Rabenschwinge?“
„Nicht schlechter als sonst.“
„Vielleicht solltest du dir wirklich mal ‘nen Freund zulegen, wenn du immer so grantig bist.“
Das sind die üblichen Frotzeleien, um den anderen ein bisschen nervös zu machen. Es ist nichts Persönliches, aber an diesem Abend war ich ein wenig von der Rolle, weil ich im Augenblick keine Familie zu betreuen hatte. Und das ist eigentlich die Aufgabe, für die ich lebe.
Ich guckte in meine Karten, sah zwei Asse und erhöhte. Protzke guckte mich forschend von der Seite an. Er wollte von meinen Augen ablesen, ob ich nur aus Ärger über seine Sprüche erhöht hatte. Eigentlich sollte er mich gut genug kennen, um zu wissen, dass ich das nicht machen würde. Aber an diesem Abend kannte ich mich ja selbst nicht richtig.
Doch noch ehe er an der Reihe war, ging Daniel aus Freudenstadt mit. Ich blickte ihm ins Gesicht und versuchte zu ergründen, wohin uns der Weg führen würde. Ich sah so etwas wie Verzweiflung.
Natürlich blieb jetzt auch Protzke dabei. Er bekam genug Geld falls er gewann, wenn wir zu dritt in der Hand blieben, so dass es sich für ihn lohnte, wenigstens mal zu gucken, was der Flop so zu bieten hätte. Und als ich mich ihm kurz zuwandte, erkannte ich den kommenden Triumph. Ich würde diese Spielrunde nicht gewinnen. Bye, bye Asse.
Der Dealer deckte drei kleine Herzen auf. Im ersten Augenblick dachte ich, Protzke würde zwei Herz halten, aber dann wanderte mein Blick rüber zu Daniel,