Kyla dachte über Zygals Worte nach. Er schien sich so unglaublich sicher zu sein. Immer wieder sprach er von Schicksal.
»Woher wisst ihr schon so lange von mir? Warum weißt du, was mit mir passieren wird?«, fragte sie. Zygal schluckte. Er schien mit sich selbst zu ringen, ob er ihr antworten sollte. »Ich weiß es einfach.« Er wandte sich ab und Kyla spürte, dass dies die letzte Frage gewesen war, die sie ihm hatte stellen dürfen. Nun war seine Laune gekippt, und wenn sie nicht ruhig war, würde er sie womöglich gewaltsam zum Schweigen bringen. Sie sah zu den Ziegen, die sich gegenseitig das Futter aus dem Maul klauten. Es sah lustig aus, aber Kyla war nicht mehr zum Lachen zumute.
Eine ganze Weile hatte Zygal sich in seine Werkstatt zurückgezogen, die in einiger Entfernung vom Wohnhaus am Rande des Flusses errichtet worden war. Kyla folgte ihm nicht dorthin – er würde sich schon bei ihr melden, wenn sie mit den Tagesaufgaben fortfahren sollte. Ab und zu blickte Olha aus dem Fenster, um nach ihr zu sehen. Kyla ahnte, dass sie den Auftrag hatte, sie zu überwachen. Blindlings zu fliehen, erschien ihr auch immer sinnloser, denn natürlich würden ihre Besitzer sie in Windeseile wieder einfangen können, solange Kyla keinen Plan hatte, wohin sie nach ihrer Flucht gehen könnte. Außerdem hatte es sie verwirrt, was Olha und Zygal ihr über ihre Zukunft gesagt hatten – nicht, dass sie wirklich viel darüber erzählt hatten, aber immerhin so viel, dass Kylas Neugier geweckt worden war.
Vielleicht hatten sie aber auch nur so wenig preisgegeben, um ihr unsichtbare Fesseln anzulegen, und darauf zu hoffen, dass sie freiwillig blieb, um im Laufe der Zeit immer mehr erfahren zu können. Doch was Kyla am meisten verwunderte, war die Tatsache, dass ihre Besitzer sich nicht sonderlich darüber zu freuen schienen, dass dieses ominöse Schicksal, von dem sie immer sprachen, sich erfüllen würde. Es war doch angeblich Kylas Schicksal, was hatten sie also damit zu schaffen? Sie setzte sich ins Gras und sah den Ziegen zu, die fraßen und sich ab und zu neckten. Vielleicht wäre es auch für sie besser gewesen, als Ziege auf Chyrrta zu leben. Die Tiere dachten wohl kaum so viel über die Dinge nach, wie sie es nun tat. Und auch für Kyla war es neu und sehr anstrengend, über die Zukunft nachzudenken. Als sie noch in den Wäldern lebte, waren ihre einzigen Gedanken an die Zukunft die gewesen, einen Schlafplatz zu finden, oder wie sie sich etwas zu Essen beschaffen sollte. Auf eine gewisse Weise war dieses Leben einfacher gewesen – wenn auch einsamer.
Als plötzlich ein Schatten auf Kyla fiel, hob sie erschreckt den Kopf und blinzelte in die Sonne. Schemenhaft erblickte sie einen großen Angreifer, der eine Axt schwang, die auf sie niedersauste. Sofort rollte sie sich zur Seite, die Klinge wurde wieder hochgezogen, dann wurde das Werkzeug langsam gesenkt und der Angreifer trat um sie herum, sodass sie ihn erkennen konnte. Es war Zygal, der grollte: »Die erste Lektion für heute hast du gerade gelernt: Sei im Freien stets wachsam, damit ein Angreifer dich nicht überraschend attackieren kann. Nimm nun die Axt und schwinge sie vorsichtig ein paar Mal in jede Himmelsrichtung.«
Kyla nahm das Werkzeug entgegen und stieß es über ihrem Kopf nach oben, wobei sie die Augen vor Anstrengung fest zusammenkniff. Die Axt entglitt ihrer Hand und fiel nur wenige Zentimeter neben ihren Füßen zu Boden. »Bei allen grünen Wassern, was tust du denn da?«, rief Zygal erbost. Er bückte sich, um zu sehen, ob Kyla verletzt war, dann hob er die Axt auf. »Du hast gesagt, ich soll sie in Richtung Himmel schwingen.«
»Das habe ich nicht! Ich habe Himmelsrichtungen gesagt!« Kyla schwieg. Zygals Blick wurde weicher. »Du kennst Norden, Osten, Süden und Westen nicht, richtig?« Kyla presste die Lippen zusammen, doch dann nickte sie leicht. »Mach dir darum keine Sorgen. Olha und ich werden dich in allem unterrichten, das dir bislang durch dein einsames Leben im Wald unbekannt geblieben ist. Du wirst auch Lesen und Schreiben lernen. Ich werde dir zeigen, was ich gemeint habe.«
Zygal machte es ihr vor und Kyla sah aufmerksam zu. Sie hatte immer gewusst, dass es vieles gab, von dem sie keine Ahnung hatte. Und sie war sich sicher gewesen, dass sie in ihrem Leben all diese Dinge auch nicht benötigen würde. Wenn Zygal und Olha sie nicht wie eine Gefangene halten würden, wären diese Dinge für sie nach wie vor unwichtig. Kyla dachte darüber nach, ob es ihr Freude bereiten würde, lesen und schreiben zu können. Aber sie wusste es einfach nicht. Ihre Neugier war jedoch groß, und sie entschied, es zumindest zu versuchen. Niemand konnte sie zwingen, Dinge zu erlernen, mit denen sie nichts zu tun haben wollte, also war immer noch Zeit, all das abzulehnen – aber vielleicht war es auch eine Chance, dass sie ihr diese Fähigkeiten beibringen wollten.
»Schwing die Axt jetzt so, wie ich es dir gezeigt habe. Aber sei vorsichtig und überschätze deine Kräfte nicht. Wenn deine Arme taub werden, dann gönne ihnen eine kurze Pause, und dann beginne von Neuem. Deine Muskeln werden später schmerzen, aber sie werden auch schnell wachsen. Und auch deine Beine werden wir trainieren. Erst, wenn du an Kraft gewonnen hast, werde ich dich die verschiedenen Taktiken in praktischen Übungen lehren. Bis dahin werden wir uns mit der Theorie zufriedengeben.«
Kyla sah ihn fragend an. Zygal seufzte. »Ich sage dir, was zu tun ist, und du hörst einfach gut zu und merkst es dir«, erklärte er dann mit einfachen Worten. Sie nickte, dann begann sie, die Axt so zu schwingen, wie Zygal es ihr gezeigt hatte. Bereits nach kurzer Zeit brannten ihre Arme, aber sie wollte nicht jetzt schon eine Pause machen, also führte sie die Bewegungen weiter aus und achtete darauf, die Axt nicht versehentlich fallen zu lassen. Zygal beobachtete sie und korrigierte ein paar Mal ihre Ausführungen, worauf ihre Arme gleich viel weniger schmerzten. Schließlich musste Kyla sich jedoch eingestehen, dass sie nicht mehr konnte, und sie ließ die Arme sinken.
»Leg die Axt fort und ruhe dich ein wenig aus, während ich ein Schwert hole.« Kyla stöhnte innerlich auf. Wollte er, dass sie im Anschluss auch noch ein Schwert durch die Luft schwang? Kyla wusste, dass ihr das nicht gelingen würde, denn ihre Arme fühlten sich jetzt bereits an, als würden schwere Steine darauf lasten. Als Zygal zurückkehrte, beruhigte er sie jedoch: »Das Training ist für den Moment beendet, aber ich möchte, dass du mir nun gut zuhörst. Ich werde dir ein paar grundlegende Dinge des Schwertkampfs beibringen.« Kyla war froh, dass sie die Axt weglegen durfte und konzentrierte sich auf das, was Zygal ihr beibrachte. Er hielt die Waffe so, dass sie es gut sehen konnte und erklärte ihr deren Aufbau.
»Die Spitze des Schwerts wird Ort genannt. Es gibt sie in verschiedenen Formen, je nachdem wofür ein Schwert hauptsächlich verwendet werden soll. Dieser Ort ist gleichmäßig geformt, breit und läuft am Ende parallel spitz zu – damit ist das Schwert zum Hieb und Stoß gleichermaßen geeignet. Schwerter mit schmaler Klinge und spitzem Ort werden zum Stoß verwendet, die mit breiter Klinge und breitem Ort ausschließlich zum Hieb.«
Er zeichnete mit einem Stock die verschiedenen Formen in den Lehm zu ihren Füßen. Als er damit fertig war, reichte er ihr den Stock. Kyla nahm ihn mit fragendem Blick entgegen.
»Steh nun auf und nimm die gleichen Positionen ein wie ich! Ich zeige dir einige der sogenannten Huten: Ochs, Pflug, Tag und Alber. Das sind Grundstellungen, aus denen heraus sowohl Angriff als auch Verteidigung erfolgen können. Zwangsläufig gibst du bei jeder Hut auch eine Blöße – also eine ungedeckte Körperstelle, auf die ein Gegner abzielen kann. Wichtig ist es, ihn zu überlisten, denn wenn du deine Blößen richtig einsetzt, kannst du ihn durch einen Angriff dazu bringen, eine eigene Blöße freizugeben, die du selbst wiederum nutzen kannst.«
Kyla nickte. Sie gab sich Mühe, seinen Beschreibungen zu folgen. Zygal machte eine kurze Pause, damit sie das Wissen verinnerlichen konnte.
»Wir beginnen mit der Hut Ochs.« Er stellte sich aufrecht hin und hielt das Schwert so, dass die Klinge in seiner