Geschichten vom Dachboden 2. Marc Brasil. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Marc Brasil
Издательство: Bookwire
Серия: Geschichten vom Dachboden
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783742789594
Скачать книгу
Freundschaftsbeziehungen nachwerfen? Aus individuellen Beweggründen einer fremden Fahne, dem Symbol einer fremden Politik, mit offenen Armen jubelnd entgegenfliegen? Oder nimmt etwa jemand daran Anstoß, dass ein Deutschschweizer die Fahne des deutschen Kaiserreiches eine fremde Fahne nennt?

      Sagen Sie mir doch, warum stehen eigentlich unsere Truppen an der Grenze? Und warum stehen sie an allen Grenzen, auch an der deutschen? Offenbar, weil wir keinem einzigen unserer Nachbarn unter allen Umständen trauen. Warum aber trauen wir ihnen nicht? Und warum wird das Misstrauen von unsern Nachbarn nicht als beleidigend empfunden, sondern als berechtigt anerkannt? Deshalb, weil eingestandenermaßen politische Staatengebiete keine sentimentalen und keine moralischen Mächte sind, sondern Gewaltmächte. Nicht umsonst führen die Staaten mit Vorliebe ein Raubtier im Wappen. In der Tat lässt sich die ganze Weisheit der Weltgeschichte in einen einzigen Satz zusammenfassen: Jeder Staat raubt, soviel er kann. Punktum. Mit Verdauungspausen und Ohnmachtsanfällen, welche man „Frieden“ nennt. Die Lenker der Staaten aber handeln so, wie ein Vormund handeln würde, der vor lauter Gewissenhaftigkeit alles und jedes für erlaubt hielte, was seinem Mündel Vorteil bringt, keine Freveltat ausgeschlossen. Und zwar je genialer ein Staatsmann, desto ruchloser. Bitte, diesen Satz nicht umkehren. Unter solchen Gewissensverhältnissen wäre Empfindlichkeit gegen Misstrauen allerdings übel angebracht.

      Während nun andere Staaten sich durch Diplomatie, Übereinkommen und Bündnisse einigermaßen vorsehen, geht uns der Schutz der Rückversicherung ab. Wir treiben ja keine hohe auswärtige Politik. Hoffentlich! Denn der Tag, an dem wir ein Bündnis abschlössen oder sonstwie mit dem Auslande Heimlichkeiten mächelten, wäre der Anfang vom Ende der Schweiz. Wir leben mithin politisch im Dunkeln, bestenfalls im Halbdunkel. In Kriegszeiten, wo wir Gefahr wittern, befinden wir uns in der Lage des Bauern, der im Walde ein Wildschwein grunzen hört, ohne zu wissen, kommt es, wann kommt es, und woher kommt es. Aus diesem Grunde stellen wir unsere Truppen rings um den ganzen Waldsaum. Und dass nur ja niemand sich auf die Freundschaft verlasse, die zwischen uns und einem Nachbarvolke in Friedenszeiten waltet. Dergleichen kommt an den leitenden Stellen gar nicht in Betracht. Das sind Harmlosigkeiten des Zivil. Durch die militärische Disziplin haben heutzutage die Regierungen, zumal die mit den Scheinparlamenten, ihre Untertanen fest in der Hand, samt deren Köpfen und Herzen, und mit den eigenmächtigen Völkerverbrüderungen ist es aus. Oder können Sie sich ein Armeekorps vorstellen, das uns zuliebe den Gehorsam verweigerte: „Gegen die Schweizer marschieren wir nicht. Denn das sind Freunde.“ Vor dem militärischen Kommandoruf und dem patriotischen Klang der Kriegstrompete verstummen alle andern Töne, auch die Stimme der Freundschaft.

      Darum sage jetzt ich: „Nun also!“ Damit meine ich:

      Bei aller herzlichen Freundschaft, die uns im Privatleben mit Tausenden von deutschen Untertanen verbindet, bei aller Solidarität, die wir mit dem deutschen Geistesleben pietätvoll verspüren, bei aller Traulichkeit, die uns aus der gemeinsamen Sprache heimatlich anmutet, dürfen wir dem politischen Deutschland, dem deutschen Kaiserreich gegenüber keine andere Stellung einnehmen als gegenüber jedem andern Staate: die Stellung der neutralen Zurückhaltung in freundnachbarlicher Distanz diesseits der Grenze. Die nötige Zurückhaltung gegenüber dem deutschen Nachbar, die uns ohnehin schwer fällt, wird uns überdies noch durch mehr oder minder wohlmeinenden Zuspruch erschwert. Zunächst der bekannte Appell im Namen der Rassen-, Kultur- und Sprachverwandtschaft. Diese müsste ja, so wird uns bedeutet, von selber zur freudigen Parteinahme mit der deutschen Sache in diesem Kriege führen. Als ob es sich da um Philologie handelte! Als ob nicht sämtliche Kanonen aller Völker das nämliche gräuliche Volapük redeten! Als ob nicht gerade dieser Krieg die Inferiorität aller Nationalverbände gegenüber dem Staatsverbande predigte! Als ob es eine ausgemachte Sache wäre, dass die Kulturwerte eines Volkes mit seiner politischen Machtstellung steigen und fallen! – Dann das gefährliche Zischeln einer bösen Versuchung, die uns im Namen der Freundschaft und des Dankes verführen möchte, etwas zu tun, was selbst die beste Freundschaft und der wärmste Dank zu tun weder verpflichtet noch erlaubt: auf unsere Begriffe von Wahr und Unwahr zu verzichten, jemand zuliebe unsere Überzeugungen von Recht und Unrecht zu fälschen. – Noch etwas Böses und Gefährliches: Der Parteinahme winkt unmäßiger Lohn, der Unparteilichkeit drohen vernichtende Strafen. Mit elenden sechs Zeilen unbedingter Parteinahme kann sich heute jeder, der da mag, in Deutschland Ruhm, Ehre, Beliebtheit und andere schmackhafte Leckerbissen mühelos holen. Er braucht bloß hinzugehen, sich zu bücken und es aufzuheben. Mit einer einzigen Zeile kann einer seinen guten Ruf und sein Ansehen verwirken. Es braucht nicht einmal eine unbesonnene oder versehentliche Zeile zu sein. Ein mannhafter, wahrhaftiger Ausspruch tut denselben Dienst. Wir müssen uns eben die Tatsache vor Augen halten, dass im Grunde kein Angehöriger einer kriegführenden Nation eine neutrale Gesinnung als berechtigt empfindet. Er kann das mit dem Verstande, wenn er ihn gewaltig anstrengt, aber er kann es nicht mit dem Herzen. Wir wirken auf ihn wie der Gleichgültige in einem Trauerhause. Nun sind wir zwar nicht gleichgültig. Ich rufe Ihrer aller Gefühle zu Zeugen an, dass wir nicht gleichgültig sind. Allein da wir uns nicht rühren, scheinen wir gleichgültig. Darum erregt schon unser bloßes Dasein Anstoß. Anfänglich wirkt es unangenehm befremdend, allmählich die Ungeduld reizend, schließlich widerwärtig, verletzend und beleidigend. Vollends ein nicht zustimmendes Wort! Ein unabhängiges Urteil! Der patriotisch Beteiligte ist ja von dem guten Recht seiner Sache heilig überzeugt und ebenso heilig von dem schurkischen Charakter der Feinde. Alles in ihm, was nicht schmerzt, was nicht hofft und bangt, was nicht weint und trauert, knirscht Empörung. Und nun kommt einer, der sich neutral nennt, und nimmt wahrhaftig für die Schurken Partei! Denn ein gerechtes Urteil wird ja als Parteinahme für den Feind empfunden. Und kein Verdienst, kein Ansehen, kein Name schützt vor der Verdammnis. Im Gegenteil. Dann erst recht. Denn dann wird einem neben Untreue und Verrat noch Undank vorgeworfen. Wie im Felde nach den Offizieren, zielt man in den Schreibstuben nach den berühmten Leuten. Bald gibt es ihrer keinen mehr, der nicht schon verketzert und aus irgendeinem Tempel feierlich ausgeschlossen worden wäre. Man wird ganz konfus. Man weiss nicht mehr, gereicht man der Menschheit zur Zierde, oder gehört man zum Auswurf. Wie aber können wir so gefährlichen Drohungen begegnen? Wer schweigen darf, preise sich glücklich, dass er’s darf, und schweige. Wer es nicht darf, der halte es mit dem Sprichwort: Tue, was du sollst, und kümmere dich nicht um die Folgen. Um unsere neutralen Seelen zu retten, kommen uns ferner Propagandaschriften ins Haus geflogen. Meist überlaut geschrieben, öfters im Kommandoton, mitunter geradezu furibund. Und je gelehrter, desto rabiater. Dergleichen verfehlt das Ziel. Es wirkt wenig einladend, wenn man beim Lesen den Eindruck erhält, die Herren Verfasser möchten einen am liebsten auffressen. Haben denn die Herren die Fühlhörner verloren, dass sie nicht mehr spüren, wie man zu andern Völkern spricht und nicht spricht? Allen solchen Zumutungen gegenüber appellieren wir von dem wild gewordenen Freund an den normalen, friedlich-freundlichen, den wir nach Kriegsschluss wieder zu finden hoffen, wie überhaupt den gesamten frühern schönen, traulichen, unbefangenen Geistesverkehr.

      Einer entgegengesetzten Versuchung hat sich unser Landesteil leider nicht genügend zu entziehen gewusst, einer unfreundlichen Gesinnung gegen Frankreich. Ich habe wiederholt aus dem Munde von Franzosen die schmerzlich überraschte Frage vernommen: „Was haben wir denn den Schweizern zuleide getan?“ Wirklich, ich weiß nicht, was sie uns zuleid getan haben. Wissen Sie’s? Oder hätten wir einen vernünftigen Grund, Frankreich besonders zu Misstrauen? Mehr zu misstrauen als jedem andern Nachbarn? Ich kenne keinen. Es handelte sich auch bei der unfreundlichen Gesinnung keineswegs um vernünftige Gründe patriotischer Art, sondern um instinktive Gefühle. Die Äußerungen der instinktiven Gefühle aber waren mitunter so, dass ich in den ersten Wochen des August den Wunsch seufzte, es möchte neben den milden Feldpredigten einmal ein kräftiger politischer Redner unsern Leuten mit Ruß und Salz die Grundsätze der Neutralität einprägen. Nun, das Pressebureau unseres Armeestabes hat ja jetzt das Wort. Und da doch so viel von Verwandtschaft die Rede ist, sind wir denn mit den Franzosen nicht ebenfalls verwandt? Die Gemeinsamkeit der politischen Ideale, die Gleichheit der Staatsformen, die Ähnlichkeit der gesellschaftlichen Zustände, ist das nicht auch eine Verwandtschaft? Die Namen „Republik“, „Demokratie“, Freiheit, Duldsamkeit und so weiter, bedeuten diese einem Schweizer etwas Nebensächliches? Es gab eine Zeit – ich habe sie erlebt –, da galten diese Namen in Europa alles. Heute werden sie nahezu als Null behandelt. Alles war zu viel. Null