"Hier draußen überleben wir wahrscheinlich nicht einmal die nächsten drei Stunden", sagte der Vater leise und resigniert. "Ich finde, Harry hat recht. Wir sollten zu den Höhlen fliegen." Lisa stimmte ihrem Vater zu. Martin starrte nur fassungslos aus dem Fenster des Gleiters, hinaus in die von gigantischen Blitzen erhellte Finsternis. Die Erde bebte unter gewaltigen Donnerschlägen. Zumindest hörte es sich an wie das Grollen eines sich nähernden Gewitters. Doch dann tauchten die Umrisse des Raumschiffs über ihnen auf. Das was sie eben noch für Blitze gehalten hatten, war nichts anderes als die Leuchtspur von lasergesteuerten Raketen. Direkt vor ihren Augen zerbarst das Haus der Rektorin in tausend kleinste Teile und verwandelte sich in einen Meteoriten-Hagel, der über dem ganzem Dorf niederging. Ein Steinbrocken traf mit voller Wucht die Frontpartie des Gleiters.
"Flieg los!", schrie die Mutter.
Kapitel 3
Sie rasten mit mehr als 450km/h durch die Finsternis. Der Bordcomputer des Gleiters gelangte an die Grenzen seiner Leistungsfähigkeit. Ständig wurde sein Kraftfeld von irgendwelchen durch die Luft sausenden Gegenständen oder Trümmerteilen getroffen, welche ihn vom errechneten Kurs abbrachten. Zwar korrigierte die Maschine im Bruchteil einer millionstel Sekunde die Abweichung und flog weiter sicher zwischen den großen Hindernissen hindurch, doch kam sie immer weniger mit den ständig sich verändernden Umgebungsdaten zurecht. Als das Computer-Display zum dritten Mal innerhalb weniger Minuten "Error" anzeigte, drosselte der Vater die Geschwindigkeit auf 200km/h. Ein verhängnisvoller Fehler.
Denn nun gerieten sie in die Reichweite der bereits überall auftauchenden Bestien, die ihrerseits auf Air-Bikes Jagd auf die Überlebenden machten. Diese kleinen, ein- oder zweisitzigen Fluggeräte waren zwar bei weitem nicht so schnell wie der Gleiter von Lisas Vater, aber dafür umso wendiger und vor allem sehr leicht zu tarnen. In der Finsternis waren die Air-Bikes überhaupt nicht zu erkennen. Sie flogen mit Nachtsichtgeräten, die ein für das menschliche Auge unsichtbares Licht ausstrahlten. Nur im grellen Licht der Explosionen oder im flackernden Schein der unzähligen Brände waren sie mit bloßem Auge auszumachen. Wenn sie in den Lichtkegeln der Gleiter auftauchten, war eine Flucht meist gar nicht mehr möglich.
Das wusste aber weder der Vater noch die Mutter, weswegen sie die Geschwindigkeit des Gleiters so drastisch reduzierten und glaubten, dadurch die Gefahr für sich und die Kinder zu reduzieren. Sie dachten nur an die Möglichkeit eines drohenden Crashs, falls der Bordcomputer ausfallen sollte und vergaßen darüber, mit wem sie es zu tun hatten. Die Bestien waren schließlich keine keulenschwingenden Halbaffen und auch keine tollwütigen Raubtiere. Sie waren technisch bestens ausgerüstete Jäger, die über modernste Waffen und Fluggeräte verfügten. Eines davon stieß wie ein Raubvogel auf den Gleiter herab, blieb etwa in fünfzig oder sechzig Metern Höhe über ihm stehen und bannte ihn in das grelle, schneeweiße Licht seiner Lichterphalanx.
Geblendet von dem plötzlich auftauchenden Licht, nahm der Vater instinktiv die Hände vom Display der Steuereinheit und schützte seine schmerzenden Augen. Sofort stoppte der Gleiter und kam zum Stillstand. Ein Gravitationsstrahl presste ihn gegen den Boden. Lisa spürte die Energie des Strahls trotz des nach wie vor intakten Kraftfeldes, welches den Gleiter umgab. Es fühlte sich an, als ob ihr jemand mit der Faust in den Magen geboxt hätte. Sie erschrak und hielt einen Augenblick lang die Luft an. Neben ihr fing der kleine Martin an zu schreien. "Mama!", kreischte er. "Mein Bauch tut weh!"
Die Mutter wollte sich gerade umdrehen und Martin beruhigen, als ein roter Blitz direkt vor der Frontscheibe des Gleiters in das Kraftfeld einschlug. "Die schießen auf uns!", rief der Vater erschrocken. "Sie wollen das Kraftfeld lahmlegen!" Alle erstarrten vor Furcht und starrten einen Augenblick aus weit aufgerissenen Augen durch die Scheiben nach draußen.
Das sonst unsichtbare Kraftfeld des Gleiters wogte in neongrünen Wellen auf und ab, angestrahlt von den Scheinwerfern des Kampfschiffes, das reglos über ihnen am finsteren Himmel stand. Es war unmöglich, irgendetwas jenseits dieser Lichtpyramide zu erkennen. Lisa hatte das Gefühl, als wären sie in einem Gefängnis aus Licht eingeschlossen. Da traf ein erneuter Laserstrahl das Kraftfeld. Wieder wurden sie alle von einem roten Blitz geblendet. Für einige Sekunden hatte Lisa das Gefühl blind zu sein. Sie rieb sich die Augen, drückte sie ganz fest zu und riss sie dann voller Verzweiflung wieder auf. Sie war nicht blind. Sie sah das Licht. Und im Licht die Gestalt. Lisa stieß einen markerschütternden, schrillen Schrei aus.
Jenseits des Kraftfeldes stand einer dieser Untoten. Er starrte Lisa mit seinen leblosen Augen bösartig an und fletschte seine spitzen, fauligen Zähne zu einem teuflischen Grinsen. Wie hypnotisiert blickte sie auf diese Bestie. Nie zuvor in ihrem Leben hatte sie etwas so grauenvolles gesehen wie dieses Monster. Die Kreatur war von übermenschlicher Größe, gut und gerne zweieinhalb Meter groß, und schien nur aus Muskeln zu bestehen. Unter den in Fetzen an ihr herabhängenden Kleidungsstücken erkannte Lisa ganz deutlich die gewaltigen Oberarme und Brustmuskeln. Die Pranken dieses Ungeheuers waren so groß wie Lisas Kopf. In einer davon hielt er ein Lasergewehr mit dem er direkt auf sie zielte.
Der rote Blitz schoss auf sie zu, Lisa schrie auf und riss die Arme hoch. Das Kraftfeld wogte und flatterte unter dem Aufprall des Schusses und nahm eine eigenartige blassrosa Farbe an. "Das Kraftfeld!", schrie der Vater. "Es bricht zusammen!" Der zweite Schuss durchdrang das Kraftfeld und traf den Gleiter direkt in der Steuereinheit. Sofort füllte sich der Innenraum mit dicken, übelriechenden Rauchschwaden. Die Mutter drückte auf den Knopf für die beiden Flügeltüren. Sie schnellten hoch und gaben den Weg frei nach draußen. Der Rauch stieg in zähen, schweren Wolken hinauf ins gleißende Licht des Kampfschiffes, das noch immer direkt über ihnen am Himmel stand. Lisa sprang aus dem Gleiter. Direkt in die Arme der Bestie.
Mit stählernem Griff packte der Riese Lisas Arm und hielt sie fest, während er das Gewehr, das er in der anderen Hand hielt, dem Vater auf den Kopf schlug. Lisas Vater brach bewusstlos zusammen. Auf der anderen Seite des Gleiters drückte die Mutter den wimmernden Martin an sich und flehte mit ängstlicher Stimme die beiden Monster um Gnade an, die langsam auf sie zukamen. Lisa war wie gelähmt vor Angst.
Der Untote stank entsetzlich nach fauligem Fleisch und etwas anderem, das sie nicht einordnen konnte. Ihr wurde so übel, dass sie glaubte, sich übergeben zu müssen. Lisa konnte kaum noch stehen. Ihre Knie zitterten und all ihre Kraft schien mit einem Mal verschwunden. Sie konnte nichts anderes tun, als dieses Ding anzustarren, in dessen Gewalt sie sich befand. So musste es dem anderen Mädchen auch ergangen sein. Anne.
Es war komisch, aber in diesem Moment musste Lisa ausgerechnet an dieses Mädchen denken, das sie nie persönlich kennengelernt hatte. Auch sie war von solchen Monstern gefangen worden. Ob sie wohl geheult und geschrien hatte? Hatte sie gewusst, was mit ihr geschehen würde? Lisa wusste es. Irgendwie kam ihr alles so unwirklich vor. Es war wie ein böser Traum. Diese teuflische Kreatur neben ihr würde sie fressen. Und sie war ihr schutzlos ausgeliefert. Der Vater lag bewusstlos neben ihr am Boden, irgendwo im Hintergrund hörte sie die hysterischen Schreie der Mutter, die immer wieder den Namen von Lisas Bruder rief. Offensichtlich hatte man ihr den kleinen Martin aus den Armen gerissen.
Lisa sah an dem Monster hinauf in dessen riesiges, fast quadratisches Gesicht. Der Kopf ruhte auf einem breiten Hals, an dem dicke Adern zu erkennen waren, die mit etwas grünem gefüllt waren, das keine Ähnlichkeit mit menschlichem Blut hatte, obwohl dieses Monster eindeutig einmal so etwas wie ein Mensch gewesen sein musste. Das Kinn war eckig und breit, seine Nase groß und platt und seine tief eingefallenen Augen lagen unter mächtigen Augenwülsten. Stirn und Wangen waren von tiefen Narben zerfurcht. Das Haar hing in fettigen Strähnen am Schädel herab. Der Körper des Untoten steckte in einer zerrissenen Tarnuniform, die über und über mit getrocknetem Blut und Exkrementen verschmiert war. Die schwarzen Kampfstiefel waren voller Risse und an der linken Stiefelspitze klaffte ein großes Loch, unter dem die Stummel von zwei zum Teil zerschossenen