Abschied vom Kietz. Helmut H. Schulz. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Helmut H. Schulz
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783847668305
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Buckligen Glück bringt.

      «Dein Vater liebte Bilder und machte auch welche», sagte Bruno.

      Aus dem Küchenschrank kramte er einen Packen abgegriffener Zeichnungen und Aquarelle hervor. Auf dem Tisch, der mit Wachstuch bespannt war, breitete er sie aus.

      «Das hat dein Vater gemacht», sagte er.

      Stiller Sonntage entsann ich mich, an denen mein Vater an seinen Bildern gearbeitet hatte.

      «Ich habe sie ihm abgebettelt», sagte der Bucklige, «er trennte sich schwer von seinen Bildern.»

      Ich betrachtete die Landschaften mit den Seen in der Mitte und den Kiefern im Vordergrund. Ich besaß selbst einen Stapel dieser Bilder. Gelungen schien mir eigentlich keines. Was ich zu sehen vermochte, war die arbeitende Hand meines Vaters, sein Kopf mit dem glatten schon ergrauten Haar.

      «Für dich wird das nun ein Beruf», sagte Bruno bedeutsam, «das vererbt sich.»

      «Was sich nicht alles vererben soll», sagte ich.

      Unter dem Nachlass meines Vaters befanden sich Bücher meist naturwissenschaftlichen Inhalts mit Randnotizen von seiner Hand, ein paar Hemden, Wäsche und ein Anzug, in den ich erst hineinwachsen musste.

      «Glaubst du, die Zeichnungen sind etwas wert?», fragte ich zweifelnd.

      Der Bucklige zögerte mit der Antwort.

      «Darauf kommt es doch nicht an», sagte er.

      «Worauf kommt es denn an?»

      Bruno schwieg. Er fischte eine seiner Sternenkarten aus dem Schrank, der alles Mögliche beherbergte, Esswaren, Bücher und Geschirr, löschte das Licht und hielt die Karte hoch. Die Sterne, mit einer grünlichen Phosphorfarbe gemalt, begannen zu leuchten.

      «Mein Planetarium», sagte er stolz und begann die Stellung der Sterne zu erklären.

      «Dein Vater», nahm er das Gespräch wieder auf, «wenn er machte was ihm gefiel, dann fühlte er sich wohl. So was hat seinen Wert aus sich selbst heraus.»

      Vor Bruno hatten wir einen großen Respekt, wenigstens wir Jüngeren.

      Seufzend schaltete er das Licht wieder ein, räumte die Blätter weg und musterte mich aus tief liegenden Augen.

      «Wolltest du was?», fragte er in anderem Ton.

      Ich machte ihm klar, dass der Winter vor der Tür stand.

      «Wir brauchen Kohlen», sagte ich.

      Er senkte den Kopf, bis ich seine Augen nicht mehr sehen konnte.

      «Und woher soll ich welche nehmen?», fragte er. «Und was könnt ihr geben? Ihr könnt doch nie was bezahlen.»

      Das war der andere Bruno, der Händler und Geschäftemacher, der seinen Vorteil suchte. Unten stand sein dickes altes Pferd, es bewies, dass hinterm Pferdeschwanz noch keiner verhungert ist. Mich interessierte die Verwandlung Brunos mehr als sein Gerede.

      «Jeder will was», lamentierte der Bucklige, «Kohlen, Kartoffeln. Was soll ich dir abnehmen, einer Waise? Schick mir lieber deine Großmutter.»

      Er verstummte und starrte auf den Fußboden, der lange keinen Wischlappen gesehen hatte.

      «Wie sein Vater», brummelte er, «der konnte einen Berg für andere versetzen und sich selber nicht helfen. Hat auch ein böses Ende genommen.»

      Der alte Schwarz schob mich vor sich her in die Küche. Er war Abträger auf dem Schlachthof, ein herkulisch gebauter Kerl von vierzig Jahren, nach frischer Milch duftend und nach rot blutendem Fleisch. Er lebte unbekümmert in den Tag hinein, stahl Fleisch und verkaufte in den Kneipen, was die Familie nicht selbst verbrauchte. Alle paar Monate betrank er sich bis zum Delirium und brauchte manchmal Wochen, um wieder auf die Beine zu kommen. In den Perioden dazwischen war er einigermaßen umgänglich.

      Klein und sauber war die Küche, mit niedriger Decke und alten Möbeln. Vigo war da und Vera. Ich gab ihr die Hand und klopfte Vigo auf die Schulter. Weil es nur drei Stühle gab, setzte sich Vera zu Vigo auf den Schoß. Ich nahm den frei gewordenen Stuhl, und der alte Schwarz meinte: «Zappeln darfst du nicht, Wolf. Die Stühle sind ein bisschen altersschwach.»

      Anscheinend belustigte ihn die Vorstellung, mich mit dem Stuhl zusammenbrechen zu sehen, denn er lachte ausgiebig.

      «Du könntest ja mal ein paar neue Stühle besorgen, anstatt alles in die Kneipe zu tragen», sagte Vigo schlecht gelaunt.

      «Ich könnte dir auch mal wieder eine langen», antwortete der Abträger gelassen. Er brannte sich eine Zigarette an und sah auf uns herab.

      Vigo verband keine guten Erinnerungen an die Tage, an denen der Abträger trank. Beruhigend legte Vera den Arm um Vigos Nacken. An ihrem Handgelenk klirrte eine billige Kette mit allerhand Anhängsel: Bären, Wappen Glückskäfer und Pilze. Mir fiel wieder auf, wie schmal der Arm Veras war und wie weiß. Es war merkwürdig, dass dieser Kinderarm zu ihrem wissenden und gierigen Körper gehörte.

      Ich stellte unsere berühmte Frage. Wie üblich wusste keiner eine Antwort.

      «Na», sagte der Abträger, «streng dich mal an, Wolf. Die kommen von alleine auf nichts»

      In unserem Viertel hatte ich einen Ruf zu verlieren. Deshalb schlug ich vor, ins Theater zu gehen. Helga ging häufig ins Theater. Hin und wieder schleppte sie uns mit. Theater liebte ich nicht sehr. Wie Vera und Vigo zog ich Kino vor, aber nur wenige Filme fanden meine Zustimmung.

      Stumm lehnte Vigo ab. Vera verzog den Mund.

      Wieder schaltete sich der alte Schwarz ein.

      «Da hast du es. Jetzt bist du mit einem Vorschlag an der Reihe», sagte er zu seinem Sohn.

      Herausfordernd sagte Vigo: «Wie oft zieht es dich denn ins Theater?»

      Es sah aus, als ob Vigo wieder mit Vera ging. Vielleicht hatten sie sich ausgesöhnt.

      «Wir mussten ja bloß für dich rackern, deine Mutter und ich», sagte der Abträger, «und trotzdem waren wir kein so trauriger Verein wie ihr heute.»

      «Ich rede nicht von früher», sagte Vigo.

      «Dich setz ich noch mal vor die Tür, mit deiner frechen Schnauze», meinte der Alte.

      «Schmeiß mich doch raus», sagte Vigo.

      Vera glitt von seinem Schoß. «Also dann um sieben unten», sagte sie. Vigo nickte.

      Es war Sonnabend, und ein langes Wochenende stand uns bevor. Langsam stieg ich nach oben, überlegend, ob es einen Sinn hatte, zu Helga zu gehen. Dann unterließ ich es. Wir würden uns nachher doch sehen.

      Am Tisch saß der Arzt und schrieb. Meine Großmutter hielt seinen Hut und sah respektvoll auf die Glatze des Doktors hinunter. Ich grüßte leise, um ihn nicht zu stören. Er kam häufig, seit Jule krank lag. Der Doktor kannte uns gut, und wir liebten ihn sehr. Schwangeren sagte er den Tag ihrer Niederkunft voraus oder half bei Abtreibungen. Er schrieb Rezepte für die Lebenden und stellte die letzte Diagnose. Es kam vor, dass er eine halbe Nacht am Bett eines Sterbenden verbrachte. Unsere kleinen und großen Sorgen interessierten ihn ebenso wie unsere körperlichen Leiden.

      Ohne aufzusehen, sagte er zu mir: «Sie müssen gleich zur Apotheke. Wir können ein Stück zusammengehen.»

      Sein Spitzbart war grau, und die Augenlider hinter den Brillengläsern waren stark gerötet. Ich trug seine Tasche. Wir gingen die Blumenstraße hinunter.

      Er legte mir die Hand auf die Schulter: «Sehen Sie sich alles gut an. Es ist nützlich. Die Häuser waren schon vor dem Kriege nichts mehr wert. Man müsste sie abreißen.»

      Ich wusste, dass der Doktor aus der Gegend weggekonnt hätte.

      Er blieb stehen, nahm die Brille herunter und rieb sich die entzündeten Augenlider.

      «Rennen Sie nicht so», sagte er, «auch Ärzte haben einen Kreislauf, besonders alte Ärzte.»

      Wir