»Millennium«, wiederholte Simon Halter gedehnt. »Wir haben doch erst 1998, wer denkt da schon an das Jahr 2000.« Er schüttelte den Kopf. Dann wandte er sich um und schaute noch einmal zu den Unterlagen auf dem Besprechungstisch. »Wir sollten das hier auf morgen verschieben«, sagte er schließlich.
Heinz Kühler nickte und schob die Blätter wieder zusammen, die auf dem Tisch verteilt lagen. Das Telefon klingelte. Simon stand auf und ging zu seinem Schreibtisch. Am Blinken des Apparates sah er, dass der Anruf aus dem Nebenraum, von seiner Sekretärin kam. Während er den Hörer abnahm, blickte er Heinz Kühler an, der sich ebenfalls von seinem Platz erhoben hatte. Die beiden Männer waren etwa gleich groß. Simon war aber deutlich kräftiger, was auch daran lag, dass Heinz Kühler sehr schlank war, ja beinahe hager wirkte.
»Bitte!«, rief Simon ins Telefon und versuchte dabei freundlich zu klingen.
»Ihre Frau ist gleich hier«, meldete sich seine Sekretärin. »Ihre Frau sagte etwas von Autoschlüssel tauschen.«
»Ach ja, danke Frau Hoischen, ich weiß Bescheid.« Simon legte den Hörer wieder auf die Gabel.
»Meine Frau«, sagte er zu Heinz Kühler, der schon in Richtung Bürotür gegangen war. »Sie holt heute Besuch vom Flughafen ab, darum tauschen wir die Wagen, hätten wir eigentlich auch schon heute Morgen machen können, aber, vergessen.« Er zuckte mit den Schultern.
Dann klopfte es, die Tür öffnete sich und Colette Halter betrat das Büro. »Bonjour, ich störe hoffentlich nicht?« Es geht auch ganz schnell, dann bin ich wieder fort.«
»Bonjour, Madame Halter, Comment allez-vous«, begrüßte Heinz Kühler die Frau seines Chefs.
Sie lächelte ihn an. »merci très bien et vous, Monsieur Kühler.«
»Oh, danke mir geht es gut, nur zu viel Arbeit, Sie kennen ja Ihren Mann«, lachte er.
Colette lächelte zurück und wandte sich dann ab. Sie ging ihrem Mann entgegen. Sie küssten sich auf die Wangen und Simon gab seiner Frau im Tausch die Schlüssel seines Wagens.
»Merci, au revoir«, bedankte sie sich, drehte sich um und verließ auch sofort wieder den Raum.
Die beiden Männer sahen ihr noch nach, bis die Tür ganz verschlossen war. Simon ging wieder zurück an seinen Schreibtisch und setzte sich in den Bürosessel.
»Irgendetwas wollte ich noch«, überlegte er laut. »Egal, vergessen, vielleicht fällt es mir später noch ein.«
Heinz Kühler nickte kommentarlos, ging zur Tür und verließ ebenfalls den Raum. Er beeilte sich. Insgeheim hoffte er, vielleicht doch noch ein paar Worte mit Colette Halter sprechen zu können, wenn sie noch im Vorzimmer war. Er sah sich im Büro um. Frau Hoischen saß an ihrem Platz. Sie beugte sich über ein Schriftstück, sodass ihr eine graue Haarsträhne ins Gesicht fiel. Von Colette Halter war nichts mehr zu sehen. Heinz Kühler verließ das Vorzimmer und ging auf den Flur hinaus. Er sah in Richtung Treppenhaus, aber auch hier war sie nicht mehr zu sehen. Schade, dachte er. Er ging in sein eigenes Büro und trat an eines der Fenster, die zur Straße hinausgingen. Simon Halters Kombi rangierte gerade auf dem Hof und fuhr Richtung Tor. Colette Halter hatte ihr Cabriolet dafür auf dem Parkplatz der Geschäftsführung zurückgelassen.
*
Florence Uzar hatte zwei anstrengende Wochen in Paris hinter sich. Es war eine Geschäftsreise, der Besuch eines Kongresses mit angeschlossener Messe. Bevor sie Europa wieder verließ, plante sie noch zwei Tage in München, bei einer Freundin zu verbringen. Über das Wochenende blieb sie aber noch in Paris. Am Montagvormittag startete sie vom Flughafen Charles-De-Gaulle in die bayrische Hauptstadt. Das erste Mal seit zwei Wochen hatte sie wieder ihr Gepäck bewegt, das zuvor träge in ihrem Pariser Hotelzimmer verstaut war. Der Taxifahrer zum Flughafen hatte ihr die Koffer noch auf einen Trolley geladen, den sie dann selbst zur Abfertigung schob. In der Schlange vor ihr stand ein junger Mann, der fast einen ganzen Kopf kleiner war als sie. Florence war stolz auf ihre gut eins achtzig. Sie hatte nie Probleme mit ihrer Größe gehabt. Während des Studiums wurde sie wegen ihres Aussehens sogar einmal von einem Fotografen auf der Straße angesprochen. Er gab ihr seine Visitenkarte und forderte sie auf, sich bei ihm zu melden. Er sprach davon, wie fotogen sie sei, mit ihrem wundervollen rotbraunen Haaren und davon, dass sie tolle Augen hätte, tolle grüne Augen. Sie war damals mit einer Kommilitonin in Nantes unterwegs. Die Freundin bedrängte sie noch Tage später, sich bei dem Fotografen zu melden. Florence hatte damals aber kein Interesse an der Sache und bezweifelte auch, dass der Mann ein richtiger Fotograf war. Sie hatte nie bei ihm angerufen und es auch nie bereut.
Der junge Mann, der vor ihr am Flugschalter stand, drehte sich zu ihr um und lächelte sie zaghaft an. Nach einer Viertelstunde hatte sie endlich ihr Gepäck eingecheckt. Zwei Stunden später kamen ihr die beiden Koffer und die große Reisetasche dann auf dem Kofferband im Münchner Franz-Josef-Strauß-Flughafen wieder entgegen. Ein Mitreisender half ihr, das Gepäck auf den Trolley zu wuchten. Seine Frau musste ihn aber erst dazu auffordern. Florence bedankte sich auf Deutsch. Einige wenige Worte sprach sie und ein »Dankeschön« gehörte auch dazu. Als sie den Ausgangsbereich betrat, sah sie Colette bereits winken. Florence musste nicht durch den Zoll und konnte ihre Koffer direkt in die Wartehalle schieben. Colette kam ihr entgegen. Sie hatten sich jetzt bestimmt mehrere Monate nicht gesehen. Florence kam jedes Jahr ein- oder zweimal nach Europa, fast immer stand auch ein Besuch in München auf ihrem Plan. Bevor Colette etwas sagte, umarmte sie die Freundin. Sie küssten sich auf die Wange, dreimal, so wie es in Frankreich üblich ist. Neben ihnen stand ein älteres Ehepaar und beobachtete interessiert die Szene. Was die beiden Frauen sich dann erzählten, verstand das Paar aber nicht mehr.
»Mon dieu, zwei Koffer, die hattest du aber beim letzten Mal nicht dabei, oder«, stellte Colette fest.
Florence sah zu ihrem Gepäck. »Und dann habe ich ja noch die große Tasche«, sagte sie in einem bewusst trotzigen Ton. Sie lachten.
»Beinahe hätte ich dich mit meinem Cabriolet abgeholt. Simon ist heute Morgen doch mit seinem Wagen in die Firma gefahren. Er hatte nicht mehr daran gedacht. Wir haben dann vorhin noch getauscht.«
»Und wie geht es ihm und dem Jungen?«
»Ich glaube Simon ist ganz froh, dass er mich heute Abend los ist. Es gibt irgendein Fußballspiel. Da braucht er sich noch nicht einmal um Marc zu kümmern. Die sitzen dann beide vor dem Fernseher und schauen es zusammen an.«
»Wie praktisch für alle.« Florence lächelte und stöhnte dann augenblicklich. »Hast du wieder ein Programm gemacht? Das letzte Mal waren es meine härtesten Tage hier in München, darum habe ich mich auch schon in Paris mit allem eingedeckt. Den orangen Koffer habe ich auch erst vor drei Tagen gekauft.«
»Das ist aber dumm«, sagte Colette und verzog zum Spaß enttäuscht die Lippen. »Jetzt wollte ich hier mit dir ordentlich shoppen gehen und du bist mit dem Thema schon durch. Na gut, wir werden sehen. Für morgen Nachmittag habe ich jedenfalls etwas Besonderes und es wird dich überhaupt nicht anstrengen. Warst du schon einmal in einem Wellnesstempel?«
Florence schüttelte den Kopf. Sie waren inzwischen losgegangen. Sie schoben den Trolley in Richtung Ausgang. Colette ging neben ihr und erzählte weiter.
»Ich mache es seit einigen Monaten, es ist herrlich. Massagen und kalte und heiße Bäder und noch einiges mehr. Nur die Sauna ist nichts für mich. Ich habe es zweimal probiert. Am schönsten ist der Ruheraum, einfach nur hinlegen und keiner stört dich mehr. Man muss sich natürlich schon einen Nachmittag freinehmen. Einmal im Monat gehe ich hin, wenn ich es schaffe auch zweimal.«
Colette hatte den Wagen direkt neben dem Flughafengebäude abgestellt. Eine Politesse überprüfte bereits die Fahrzeuge, die auf dem Parkstreifen standen.
»Lass uns schnell machen«, flüsterte sie Florence zu. »Ich habe zwar einen Parkschein, aber der dürfte mittlerweile abgelaufen sein. Simon hat kein Verständnis für Knöllchen.«
Colette öffnete die Heckklappe des Kombis und sie wuchteten gemeinsam die beiden Koffer in den Wagen. Die Reisetasche