Victoria. Helmut H. Schulz. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Helmut H. Schulz
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783847668763
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Krise; eigentlich hieß dieser Melbourne William Lamb, entstammte einer reichen Bürgerfamilie und kam erst unter Georg III. zu Adelsrang und Einfluss auf die englische Politik. Obschon Emporkömmling und neureich hatte Melbourne die Gewohnheiten, den Stil eines Aristokraten aus dem 18. Jahrhundert angenommen. Laut einer Statistik aus dem Jahre 1871 schalteten rund 7.400 Lords auf der Hälfte allen englischen Grund und Bodens wie asiatische Despoten, vertrieben ihre Pächter und trieben expansive Wirtschaft; alle Macht den Lords, lautete der Schlachtruf. Acht Adelsfamilien beherrschten den Staat Victorias.

      Als das preußische Prinzenpaar, Wilhelm und Augusta, dieses England zum ersten Male besuchte, war die Reform über dem Berg; zu bewundern, wie es Augusta tat, gab es dennoch nichts. Die Queen berief die Pairs in das Oberhaus, regelmäßig um die 400, meist mehr, aber jedes dieser Mitglieder des House of Lords kommandierte eine stattliche Klientel, die auf seinem Grund und Boden entweder als Pächter oder als mehr oder minder freie Bauern wirtschafteten und vollständig von ihm abhingen. Sie tanzten nach seiner Pfeife. Aus diesen wirtschaftlich abhängigen Männern, die man nicht mit gewählten Abgeordneten einer Partei verwechseln darf, setzte sich das Unterhaus zusammen, das House of Commons. Bis zum Beginn der Parlamentsreform 1832 verfügten, laut British Library, ganze 177 Pairs, 87 davon als Angehörige des Hochadels, über die Besetzung von 213 Plätzen im Unterhaus. Überdies besaßen acht der einflussreichsten Adligen noch 50 Plätze in diesem wichtigen Gremium. Von einer Demokratie konnte also kaum die Rede sein, und wäre der Staat Victorias demokratisch gewesen, hätte sich Augusta nicht in den englischen Liberalismus verlieben können, da ihr eigenes Verständnis von freien Bürgern in einem freien Land Adel, vom Gottesgnadentum ableitete und auf ewig privilegiert sehen wollte.

      Zum Hochadel gehörte Melbourne auch nach seinem Aufstieg nicht, sein Vermögen wurde immerhin auf 1 Mio. Pfund Sterling taxiert. Und alle Vermögen wurden überhaupt aus der Kapitalisierung der Latifundien erwachsen. Die Familie hatte den begabten jungen Herren auf die beiden Eliteschulen des Landes geschickt, und zwar nacheinander nach Eton und Cambridge. Auf seinem Wege geriet der junge Melbourne an den berühmten Führer der Whigs, James Fox, und lernte bei ihm das Handwerk der englischen Politik. War er ein erfolgreicher politischer Karrierist, so versagte er auf privat-bürgerlichem Felde völlig. Er hatte eine Dame namens Caroline Pansanby geehelicht, diese aber an den begabten Abenteurer Lord Byron verloren. Der Dichter des Manfred, der Kämpfer für die politischen Rechte christlicher Griechen gegen islamische Türken, dem Friedrich Engels nachsagte, dass er zur rechten Zeit abgegangen sei, anders wäre er als Reaktionär zu seinen Vätern versammelt worden, brach die Herzen gelangweilter Ladies serienweise, aber er fiel, ehe sich die engelssche Vorhersage bewahrheiten konnte.

      Die Frau des Premiers führte allerdings ein aus dem Rahmen fallendes exzentrisches Leben, das sie 1836 beschloss. Weshalb der berühmte und mit allen Wassern gewaschene Politiker die Bürde dieser skandalösen Ehe auf sich genommen hatte, anstatt sich von Caroline zu trennen, das verstanden nicht einmal die Zeitgenossen. Melbourne musste sich zeitweilig aus dem öffentlichen Leben zurückziehen, was immer auch darunter zu verstehen ist, wenn nicht bloß der gesellschaftliche Rahmen eines Premiers, um aus der Schusslinie der Skandalpresse zu kommen. Andererseits vermochte die junge Königin, die mit ihrem neuen Lehrer täglich mehrmals zusammenkam, teils um tagespolitische Fragen zu besprechen, teils um sich von dem wesentlich älteren Mann leiten zu lassen, ihre Eifersucht auf die eine oder andere Geliebte des Premiers nicht völlig zu unterdrücken. Und ihr kam manches zu Ohren; eine Dame Branden war im Gespräch, eine andere, namens Norton löste sie ab oder umgekehrt und so fort.

      Da die Psychoanalyse alle paar Jahre eine neue Moderichtung hervorbringt, um sich die Notwendigkeit ihrer Existenz zu bestätigen, so bedienen sich die von ihr faszinierten Historiker und reihen den Lord Melbourne unter die Sado-Masochisten ein. In seinen Briefen ist allerdings verdächtig oft von Peitsche und von Züchtigung die Rede. Nun setzte das Zeitalter ganz allgemein auf Körperstrafen; ausgepeitscht wurden außerehelich schwangere Mädchen, ausgepeitscht wurden schwarze Koloniesklaven, Matrosen und Soldaten, Strafen, die irgendein Court rechtens verhängte. Anders steht es schon mit dem Verdacht, das innige Verhältnis der jungen Königin zu ihrem Premier-Vater könne den Charakter sexueller Abhängigkeit getragen haben. Melbourne näherte sich seiner Monarchin, wenn einer zusah, stets mit dem größten Respekt, zugleich aber auch mit einer fürsorglichen Zärtlichkeit. Vielleicht sah er wirklich in dem unwissenden, ohne ihn hilflosen Ding, eine Art Tochter, wie sie in ihm den Vater suchte. Die beiden wechselten im Laufe der Zeit tausende Briefe zu allen möglichen Themen. Selbst ihre Ehe mit Albert, vielmehr ihr Jawort zu seiner Werbung machte sie von der Zustimmung Lord Melbournes abhängig, was sicherlich nicht bloß politisch motiviert war. Im Grunde hatte Victoria keinen Vertrauten, sieht man von Stockmar ab, der sporadisch auftrat. Mit ihrer Mutter wollte und konnte sie dergleichen kaum besprechen. Die Lehzen war heimgeschickt worden, und Victoria musste ihre Rolle im englischen Parlamentssystem erst noch spielen lernen.

      Verglichen mit dem Reichtum der Adelsfamilien war die Königin arm, aber das sollte sich bald ändern. Victoria besaß einen angeborenen Sinn für alles Geschäftliche, Haushälterische, bis zur Kleinlichkeit. Sie konnte ihr Erstaunen über den unerhörten Reichtum, den sie gelegentlich auf den Besitztümern des Hochadels vorfand, nie verbergen; ein aufdringlicher Reichtum, gegen den sie sich wie eine arme Verwandte fühlte. Verstand sie, woher diese Anhäufung märchenhaften Besitzes kam? Sicher nicht. Rücksichtsloser und früher als auf dem Festland, war der englische Hochadel dazu übergegangen, sich neue Erwerbszweige zu erschließen. Tausende, wenn nicht hundertausende Pächter wurden ohne den Deckmantel eines Vorwandes vertrieben, füllten die Armenquartiere der großen Städte oder verließen England in Richtung Kolonien, um ebenfalls reich zu werden, so reich wie der grundherrliche Lord, dem der Flüchtling sein Elend verdankte, oder um ganz zu verderben. Der Vergleich mit den Zuständen im England der Revolution und der Cromwell Zeit; es hatte sich wenig verbessert, kaum etwas verändert. Und die herrschende Grundbesitzerklasse erschloss neue Quellen des Reichtums.

      Lord Russell, einer der Nachfolger Melbournes im Amt, war Besitzer ganzer Straßenzüge im Elendsviertel East-London, in der noch um die Jahrhundertwende eine Armut herrschte, die auf dem Festland unvorstellbar war. Und während ihrer langen Regentschaft, selbst unter Victorias Nachfolger änderte sich an den Verhältnissen im Londoner Elendsviertel nichts, wie Jack London recherchierte. Was der herrschenden Klasse mittlerweile zugetraut wurde, belegt das Gerücht, ein Mitglied des Königshauses sei identisch mit dem Prostituiertenmörder, Jack the Ripper, einem Serienmörder in Whitechapel 1888. Der Amerikaner Jack London suchte die berüchtigten Viertel 1902 auf und teilte schauerliche Einzelheiten in seiner Reportage mit: The People of the Abyss, Menschen der Tiefe, Volk am Abgrund deutsch getitelt. Um das passende Zitat in der Reportage zu finden, genügt es, einen Finger zwischen die Seiten zu stecken. Vom Londoner Osten schreibt Jack London: Es gibt auf dieser Welt keinen traurigeren Anblick, als dieser fürchterliche Osten mit Whitechapel, Hoxton, Spitalfields, Bethnal Green und Wapping bis zu den Ostindiadockes ihn bietet. Hier ist die Farbe des Lebens grau und schmutzig braun. Alles ist hilflos, hoffnungslos, trostlos und schmutzig. Etwas wie Badeeinrichtungen kennt man nicht. Die Menschen selbst sind so schmutzig, dass jeder Versuch der Reinlichkeit als Komödie betrachtet werden müsste, wäre es nicht so schmerzlich und tragisch.

      Nicht als ob deutsche oder französische Verhältnisse die Armen dieser Länder zu übertriebener Vaterlandsliebe hätten hinreißen können, aber es gab doch Unterschiede in der Denk- und Fühlweise zwischen dem Festlandeuropäer und dem Inselbriten. Für die Frage, weshalb gerade England, das Flaggschiff des Protestantismus, ein solches Elend hervorgebracht hat, ist die Erinnerung an zwei Daten von Nutzen; für die deutschen Klein- und Mittelstaaten die Augsburger Religionsformel, die im Westfälischen Frieden ausdrücklich in völkerrechtlichen Verträgen verankert wurde, und die Geburtsstunde der Englischen Staatskirche, das heißt, der von oben vollzogenen Trennung von Rom. Die Etablierung einer einheitlichen Staatskirche führte England auf einen besonderen Weg.

      Gewöhnlich werden drei Reformatoren genannt, der Deutsche Luther, die Schweizer Zwingli und Calvin, bestenfalls noch Hus; in England wirkte Wiclif. In England ist das Ja oder Nein zur Reformation Sache des Staates gewesen und alle Konflikte mit der Krone führte das Parlament in religiöser Verkleidung. Ein Katholik war ein Staatsfeind, und die katholischen Iren sind es bis heute geblieben. Die Königin Victoria passte in das