2007 Eine unheilbare Krankheit
Es ist später Abend. Ich bin zuhause und schreibe in mein Tagebuch. Es ist ungewohnt. Ich habe das lange nicht mehr gemacht. Der letzte Eintrag liegt siebzehn Jahre zurück.
Fides wurde heute mit Verdacht auf einen Schlaganfall in eine Klinik eingeliefert.
Es ist Sonntag. Sie hatte sich am Nachmittag nach dem Essen hingelegt. Ich kochte für uns. Die Kinder waren nicht im Haus. Nach dem Essen räumte ich die Küche auf. Sie war stark verdreckt. Als ich gerade das Haus verlassen will, um ins Büro zu fahren, höre ich ein zaghaftes Rufen aus ihrem Ankleidezimmer, in dem sie ihren Mittagsschlaf hält.
Ich hatte schon die Wohnungstür geöffnet. Ich kehre um und betrete das Zimmer. Sie liegt am Sofa und schaut mich mit weit aufgerissenen Augen an. Sie gibt mir durch Zeichen zu verstehen, dass sie nicht sprechen und ihre Arme nicht heben kann.
Ich rufe den Notarzt an. Der Sprecher in der Zentrale fordert mich auf, einen kurzen Test durchzuführen.
„Kann Ihre Frau die Arme heben?“ Antwort: „Nur den rechten.“
„Kann Ihre Frau sprechen?“ Antwort: „Nur undeutlich.“
„Ist ihr Gesichtsausdruck verändert?“ Antwort: „Ja, irgendwie schief.“
„Wir kommen sofort“, war die Antwort.
Nachdem ich auflegte, sagt meine Frau: „Mir ist schlecht.“ Sie kann wieder sprechen. Kurz danach kann sie auch den linken Arm wieder etwas anheben, allerdings nur unter großer Anstrengung.
Sie greift mit der rechten Hand nach meiner Hand und hält sie fest. Das hat sie früher oft getan, die letzten fünfzehn Jahre aber nicht mehr. Ich bin deshalb überrascht.
Unser Haus ist mit dem Auto schwer erreichbar. Es liegt in einer autofreien Zone. Ich will deshalb vor zur Straße gehen, um den Notarztwagen einzuweisen. Fides lässt aber meine Hand nicht mehr los.
Der Notarzt ruft noch einmal an. Sie finden die Zufahrt zu unserem Haus nicht. Ich mache mich zum Telefonieren von ihrer Hand frei, gehe zur Tür und den Weg zur Straße vor. Dort erwartet mich der Notarztwagen mit eingeschaltetem Blaulicht. Die Zufahrt ist etwas eng und die Sanitäter holen ihre Krankenbahre aus dem Auto. Wir eilen zu unserem Haus. Die Sanitäter sehen sich die Patientin an und verständigen sich mit einem Blick. Sie heben meine Frau auf die Krankenbahre, binden sie fest und fordern mich auf mitzukommen.
Im Krankenhaus fahren wir mit dem Lift in die Schlaganfall-Abteilung. Die Sanitäter informieren eine Schwester, legen meine Frau in ein Bett, das im Gang steht, und gehen. Ich fahre in die Verwaltung im Erdgeschoss, um die Aufnahmeformalitäten zu erledigen.
Zurück in der Station, liegt Fides immer noch im Gang. Kein Arzt und keine Schwester ist zu sehen. Im Schwesternzimmer, eine einsame Schwester an einem Schreibtisch. Ich frage, wann sich jemand um meine Frau kümmert. Antwort: „Es ist derzeit kein Arzt frei. Es ist Sonntag. Wir haben nur eine Notbesetzung in der Abteilung. Ich rufe an. Der Arzt ist unterwegs.“
Es dauert noch eine ganze Weile, bis der Arzt erscheint.
Sie wird in einen Untersuchungsraum geschoben. Die Bitte, bei meiner Frau bleiben zu dürfen, wird überhört. Ohne Kommentar schließt die Schwester die Tür zum Behandlungsraum vor meiner Nase. Ich setze mich auf einen Stuhl auf dem Gang.
Kurz danach betritt ein Pfleger den Behandlungsraum, kommt aber gleich wieder heraus und leistet mir Gesellschaft.
Nach etwa zwanzig Minuten öffnet sich die Schiebetür. Eine Schwester fährt Fides in einem Bett heraus und übergibt sie dem Pfleger. Der fährt mit uns in ein anderes Stockwerk. Sie kommt in ein Zimmer, in dem schon eine Patientin liegt.
Ich setze mich neben ihr Bett und halte ihre Hand. Anscheinend hat sie ein Beruhigungsmittel bekommen, denn sie schläft bald ein.
Ihr Gesicht ist entspannt und nicht mehr schief.
Am Montagmorgen muss ich dringende Programmierarbeiten erledigen. Am Nachmittag fahre ich wieder in die Klinik.
Meine Frau ist nicht in ihrem Zimmer. Es dauert nicht lange und ein Pfleger schiebt sie im Bett herein. Das schiefe Gesicht ist weg. Sie zeigt mir stolz, dass sie ihren linken Arm wieder heben kann. Sie zieht den Bademantel an, den ich ihr mitgebracht habe und wir gehen ein paar Schritte im Zimmer auf und ab. Ich bin erleichtert. Mich erwartet viel Arbeit bei einem Kunden in Minden/Westfalen. Morgen nehme ich den ersten Zug.
Gestern Abend kam ich erst spät aus Minden zurück.
Fides wurde heute am Vormittag aus der Klinik entlassen. Zusammen mit meinen Töchtern nahm ich in der Klinik den Abschlussbericht der Ärzte entgegen.
Sie leidet unter einer vaskulären Demenz. Eine Krankheit, bei der Gehirnzellen absterben. Eine Krankheit, für die es keine Medikamente gibt und die unabwendbar in die Demenz führt. Die Aufnahmen ihres Gehirns zeigen Schäden, die mehr als 10 Jahre alt sind. Die Ärzte erklären uns, dass das Gehirn in der Lage ist, abgestorbene Zellen, die lebenswichtig sind, durch weniger lebenswichtige Zellen zu ersetzen. So kommt es, dass Demenz-Patienten zuallererst die Empathie verlieren. Das erste Anzeichen der Krankheit ist in der Regel eine krasse Persönlichkeitsveränderung.
Durch den Schlaganfall sind weitere Schäden im Gehirn entstanden.
Die Patientin wird als derzeit beschwerdefrei entlassen. Uns wird dringend eine Betreuung durch einen ambulanten Pflegedienst empfohlen, der die regelmäßige Einnahme der Medikamente gewährleistet.
Es sind jetzt fünfzehn Jahre, dass die guten Jahre mit Fides zu Ende gingen. Unsere kleine Tochter war damals gerade zehn Jahre alt, die große schon fünfzehn und tief in der Pubertät.
Ich arbeite oft bei meinen Kunden und bin nur mehr selten bei meiner Frau.
Ich war jetzt drei Monate bei einem Kunden in der Nähe von Hamburg. Bei meiner Rückkehr erschrak ich über ihren Zustand.
Sie ist tiefer in ihre Krankheit gestürzt. Sie hat jetzt nicht nur ihre Empathie verloren, sie vernachlässigt auch ihr Äußeres und sie wäscht sich nicht mehr regelmäßig. Sie sitzt stundenlang vor dem Fernseher. Trotz der geringen Entfernung fährt sie immer mit dem Auto zum Einkaufen. Sie ist übergewichtig, weil sie nicht mehr regelmäßig isst, aber ständig Süßigkeiten knabbert. Sie stinkt durchdringend nach Urin. Sie ist vereinsamt und verwahrlost.
Die Klinik empfahl einen Arzt, der auf demente Patienten spezialisiert ist. Bei einem Besuch versucht er, meiner Frau bewusst zu machen, dass sie dement ist.
Er sagt: „Sie stinken nach Urin. Sie waschen sich nicht. Sie wechseln ihre Kleider nicht. Sie sind dement.“ Meine Frau ist erst wie erstarrt, dann ruft sie empört: „Sie lügen, ich habe heute geduscht.“ Der Arzt steht auf und holt seine Sprechstundenhilfe. Die bestätigt, dass es in dem Raum nach Urin stinkt und dass der Geruch von meiner Frau ausgeht.
Meine Frau wird blass vor Zorn und steht wütend auf, um zu gehen.
Jetzt beschwichtigt sie der Arzt. „Sie sind krank, ich will ihnen helfen. Sie brauchen Medikamente.“ Er beginnt, in seinen Unterlagen zu kramen. Sagt, er wüsste ein geeignetes Medikament, ihm fiel aber der Name des Medikaments im Moment nicht ein. Er ruft einen Apotheker an und nach einem sehr kurzen Gespräch stellt er ein Rezept aus. Er fordert uns auf, schon in der nächsten Woche zu einer weiteren Behandlung zu kommen und legt mir einen Vertrag vor, der diese regelmäßige Behandlung, die durch die Krankenkasse bezahlt würde, durch einen privaten Beitrag ergänzt.
Verängstigt und verwirrt unterschreibe ich den Vertrag gemeinsam mit meiner Frau. Zuhause angekommen bekomme ich starke Zweifel an der Kompetenz des Arztes. Ich rufe die Ärztin im Krankenhaus an, die mir den Arzt empfahl und erzähle ihr von der Behandlungsmethode des Arztes. Sie versichert mir, der Arzt wäre ihr von einem Kollegen empfohlen worden und