Demenz in der Lebensmitte. Hanns Sedlmayr. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Hanns Sedlmayr
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742767097
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ersten Besuch abweisend und apathisch ist, ist nach einigen Wochen herzlich und lebhaft. Valerie glüht dann vor Begeisterung und findet sich großartig.

      Diese schönen Erfahrungen sind selten.

      Viel öfter sind ihre Bemühungen ohne Erfolg. Die grausamen Lebensumstände ihrer Patienten und die Unmöglichkeit, ihnen zu helfen, legen sich wie ein Schatten auf Valeries Seele.

      Freitagnacht schlafen wir nie miteinander. Valerie muss erst die Schatten vertreiben, die auf ihrer Seele liegen.

      Alle Wochenenden des Sommers verbrachten wir gemeinsam. Nur einmal fährt Valerie zu ihrem Vater.

      In der körperlichen Liebe ist sie unerfahren und ungeduldig. Es gibt da noch viel zu entdecken für sie.

      Wir gehen viel aus. Kinos, Restaurants, Museen. Große Freude machen mir unsere Picknicks im Englischen Garten oder an der Isar. Am Wochenende haben wir immer ein volles Programm. Ich plane unsere Wochenenden immer sorgfältig. Schon die Vorbereitung der Wochenenden bereitet mir Freude.

      Wenn am Freitagabend Valerie ankommt und ich sie zum ersten Mal wiedersehe, wechsle ich in eine andere Welt. Alle Nöte und Ängste sind wie weggewischt und ich betrete eine Erde, in der alle Sehnsüchte gestillt sind.

      Dieses Gefühl hält an, bis ich sie wieder am Montagmorgen an ihrem Auto abliefere.

      Das Wohlgefühl, das mir Valerie schenkt, wirkt sich auch auf den Umgang mit meiner Frau aus. Ich gehe fröhlicher und geduldiger mit ihr um. Ihre Krankheit deprimiert mich weniger.

      Im Spätherbst besuche ich mit Valerie das Museum der Fantasie am Starnberger See. Zu Mittag essen wir in der Herbstsonne vor dem Museum.

      Wir sitzen etwas exponiert inmitten von Familien und Paaren.

      Valerie geniert sich bei diesem Mittagessen für mich.

      Ich bin in eine Frau verliebt, die sich in der Öffentlichkeit für mich schämt.

      Fünfzehn Jahre lang konnte ich – von zwei kurzen Affären abgesehen – keine Gefühle für eine Frau entwickeln. Das Gefühl, eine Frau mit allen Sinnen zu lieben, vermisste ich sehr. Die Leidenschaft für meine Frau hielt fast dreißig Jahre an, bis zum Ausbruch ihrer Krankheit und noch einige Zeit darüber hinaus. Die Hoffnung, dieses Gefühl noch einmal zu erleben, hatte ich schon aufgegeben. Nun ist es wieder da.

      Mit Valerie zusammen zu sein, ist wie das Betreten einer anderen, freundlicheren Erde. Ich mag ihre Ehrlichkeit und ihre Verletzlichkeit. Ich will sie beschützen. Ich wünsche mir, dass sie das Leben schön findet. Ich möchte jeden Tag neben ihr aufwachen.

      Nahezu zeitgleich mit dem Ausbruch der Krankheit von Fides, begannen für mich beruflich schwierige Jahre. Einige Jahre war ich sehr nahe am Abgrund. Als der Absturz in Form des Konkurses erfolgte, lag meine Welt in Scherben.

      Meine Frau war gehässig und unberechenbar. Meine halbwüchsigen Töchter waren durch die Krankheit der Mutter und den Konkurs des Vaters verunsichert. Ein Berg von Schulden lastete auf mir. Ich war ohne Einkommen.

      In diesen Jahren ging es ums Überleben. Gefühle konnte ich mir nicht leisten. Ich war eine Maschine, die ständig auf vollen Touren im roten Bereich lief. Meine Gefühle für andere Menschen, sogar die für meine Kinder, waren abgestorben.

      Zu zwei engen Freunden aus meiner Kindheit brach ich den Kontakt ab.

      Als Valerie das erste Mal kommt, liegt mein Neuanfang schon einige Zeit zurück. Mir ist es gelungen, mit einer Software für Handwerker wieder Fuß zu fassen. Mein Gefühlsleben blieb aber vereist.

      Valerie bringt meine Freude am Leben zurück. Bergtouren mit ihr machen mir riesigen Spaß. Einmal geraten wir in einen Starkregen und sind vollständig durchnässt. Ich finde den Regen herrlich.

      Ich weiß, dass Valerie meine Gefühle nicht erwidert. Für sie bin ich ein alter Mann und nur eine Verlegenheitslösung. Sie hätte sich nie mit mir angefreundet, wenn sie nicht zu Beginn ihrer Tätigkeit in München so vereinsamt gewesen wäre. Valerie ist in einer Kleinstadt mit strengen Regeln aufgewachsen. Für sie ist die Beziehung zu einem sehr viel älteren Mann eine Schande. Dies verringert meine Gefühle für sie nicht. Ich liebe sie.

      Ich fühle wieder. Valerie hat mir wieder ein Gefühlsleben gegeben.

      Ich vermied es jahrelang, meiner Frau ins Gesicht zu schauen. Es war ein leeres, gefühlloses Gesicht. Seltsam war, dass ihr Gesicht trotz der Leere eine merkwürdige Selbstsicherheit ausstrahlte. Es war ein dummes Gesicht, das sich bei geringsten Anlässen in ein wütendes Gesicht verwandeln konnte.

      Vor ihrer Krankheit war ihr Gesicht, für fast dreißig Jahre, der Ort all meiner Sehnsüchte.

      Ich fürchtete, diese Erinnerung an die Schönheit und Zärtlichkeit meiner Frau zu verlieren und vermied es deshalb, sie anzusehen. Sie hatte sich sehr weit von der Frau entfernt, die ich einmal geliebt habe.

      Sie ist 65 als sie als Pflegefall aus der Psychiatrie nach Hause kommt. Ihr Körper ist von einem dicken Bauch entstellt. So einen Bauch hatte sie zuletzt, als sie schwanger war.

      Manchmal, wenn sie sich unbeobachtet fühlt, sehe ich sie an. In ihrem Gesicht erkenne ich jetzt zumindest eine Verwandtschaft mit dem das ich einmal geliebt habe. Es ist ein anderes Gesicht, aber es ist das meiner Frau.

      Mit der Zeit gewöhne ich mich wieder an ihr Gesicht. Ich finde manchmal Spuren, die an die gefühlvolle Ausdrucksweise in früheren Zeiten erinnern.

      Ich kann ihr jetzt wieder ins Gesicht schauen, ohne fürchten zu müssen, meine Erinnerungen zu verlieren.

      Nach einem Jahr beendet Valerie ihre Beziehung mit mir.

      Mein Gefühlsleben bleibt aber erhalten. Ich vereise nicht wieder. Ich kann mich an schönen Dingen freuen, auch wenn die Anlässe jetzt seltener sind.

      Fides bekommt sehr starke Medikamente, die ihre Gesichtszüge verwischen. Es braucht starke Impulse, dass sich Gefühle darin spiegeln.

      Die Ankunft ihrer Enkelin ist so ein Impuls.

      Ich liebte das Gesicht meiner Frau in der Zeit, als unsere Kinder klein waren, am meisten. Es strahlte damals vor Glück. Sie hatte in der Liebe zu ihren Töchtern eine innere Ruhe und eine Befreiung von allen Ängsten gefunden.

      Kurz nach der Ankunft der Enkelin, bei einem Besuch der Töchter, wird ihr Gesicht weich. Es ist so, als ob sie einen Umhang abwirft. Ihr Gesicht wird durchsichtig. Etwas, das in ihr verborgen ist, stülpt sich nach außen. Ihr Gesicht zeigt Sehnsucht beim Anblick der Enkelin. Es ist aber auch mit Scham vermischt. Ihre aufgebrochenen Gefühle zeigen jetzt in ihr Inneres. Sie schämt sich vor der Enkelin für ihre Gebrechlichkeit. Immer wieder versucht sie aufzustehen und sich der Enkelin zu nähern. Ihre Versuche werden immer entdeckt und sie wird in ihren Stuhl zurückgeschubst. Der Stuhl wird nach solchen Versuchen nah an den Tisch gezogen, sie ist dann darin eingesperrt.

      Das Gefühl der Scham, das sie in dieser Situation empfindet, geht mir unter die Haut. Sie hatte zwanzig Jahre lang in keiner Situation, auch wenn sie krass war, Scham empfunden. Sie ist wieder eine sensible Frau geworden.

      Sie hat einen Bauch, einen Hängebusen und die faltige und fleckige Haut eines Menschen Mitte sechzig, (die habe ich natürlich auch), ist inkontinent und kann selbständig weder aufstehen noch gehen. Sie braucht eine Pflegerin, aber ihr Gesicht ist nicht mehr leer. Ich kann wieder darin lesen. Was ich lese, ist oft Scham, manchmal aber auch Freude. Sie freut sich am Morgen, wenn ich komme. Es ist immer ein verstecktes Lächeln, aber es ist ein Lächeln.

      Manchmal kommt ein Lächeln zustande, das ich gut kenne: „Mir geht es gut, Du bist da.“ Es ist ein Lächeln aus den dreißig guten Jahren.

      Ich habe keine ärztliche Behandlung gebraucht, um aus einer Vereisung zu erwachen. Eine kurze sommerliche Liebe hat genügt.

      Ich erinnere mich wieder an die Zärtlichkeit und Lust, die sie mir dreißig Jahre lang geschenkt hat. Es macht mir nichts aus, ihre Windeln zu wechseln. Ich bin geduldig, wenn sie nicht ansprechbar ist. Ich säubere sie, ohne allzu großem Ekel, wenn sie eingekotet hat.

      Mir geht es gut, wenn ich sehe, wie sie sich freut, wenn ich sie zum