Die Schule auf dem Baum. Gunter Preuß. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Gunter Preuß
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742791436
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aus und hoffe, dass sie mich in Ruhe lassen, wenn ich ihnen nicht zu viel Ärger mache. Aber diesmal kann ich nicht mit ihnen hinterm Zaun sitzen. Ich musste mich aufs Rad schwingen und in die Pedalen treten, bis es mich abwirft. Das ist manchmal so bei mir.

      Der alte Hausmann hat mich ins Lehrerzimmer kommen lassen. Gleich nach dem Unterricht. Er ist schon eine Ewigkeit mein Klassenlehrer. Nach jedem Unterricht habe ich vergessen, dass es den alten Hausmann gibt. Oft sogar im Unterricht. Der Alte tut mir leid. Weil er so alt ist. Ich weiß nicht warum. Niemand aus der Klasse spielt ihm einen Streich. Keiner ist wütend auf ihn. Aber es mag ihn auch keiner. Der Alte ist eben da und unser Lehrer. Wenn eine Klassenarbeit angekündigt ist und vor Prüfungen hören wir ihm zu. Er weiß bestimmt eine Menge. Es ist nur, man will es von ihm nicht hören.

      Heute war er ganz eigenartig. Jedes Wort ist ihm schwer gefallen. Er schwitzte und bekam schlecht Luft. Er hat sich angestrengt, sicher zu wirken. Wollte den harten Mann spielen. Hat mich stehen und warten lassen. 'Hans Schorn', hat er gesagt. 'Ich muss mit dir reden.' Er hat das Fenster aufgerissen. Dann hat er es zugestoßen und den Vorhang zugezogen.

      Er hat vom Baum erzählt. Von der Kastanie. Von mir da oben und den anderen da unten. Dass es so nicht geht. Was ich mir denn dabei denken würde. Und, und, und. Mit einem Kugelschreiber hat er auf den Schreibtisch geklopft. Wie mit einem Hammer.

      Ich habe nichts gesagt. Ich habe ihm noch nie was sagen können. Aber ich hätte ihm gern was gesagt. Dass er mir leidtut. Dass er sich nicht so aufregen soll. Ich weiß ja auch nicht, warum ich auf die Kastanie steige.

      Da hat er geschrien. Zum ersten Mal habe ich den alten Hausmann schreien gehört. Da bin ich aus dem Zimmer gerannt, und aus der Schule raus.

      Ich wollte nur weg. Als hätte ich eine Bank geknackt. Oder jemandem das Leben aushauchen lassen. Bei den Fahrradständern hat Panzer gesessen. 'Mensch!' hat er gerufen. 'Wie siehst du denn aus?'

      'Lass mich in Ruhe', habe ich gesagt. 'Lasst mich doch alle in Ruhe!'

      Er hat wissen wollen, was denn los wäre mit mir. Die Leute würden mich nicht wiedererkennen.

      'Nichts ist los', habe ich gesagt. 'Verdammt gar nichts.'

      'Wenn du Hilfe brauchst', hat Panzer gesagt. 'Du, ich haue jedem das Maul zu. Du musst es nur sagen.'

      Fast hätte ich Panzer alles erzählt. Wenn ich auch nicht weiß was. Immerhin wäre ich ohne die Sache auf der Toilette vielleicht nie auf den Baum gestiegen. Seine Stimme hatte geklungen, als wollte er mir tatsächlich zuhören. Das war mir selten passiert. Eigentlich nur bei meiner Oma. Als sie krank im Bett lag, kurz bevor Neptun sie für immer untergehen gelassen hat. Zwei Jahre ist das her.

      Ich habe mich auf mein Fahrrad geschwungen und bin losgefahren. Um zu erkunden, was da eigentlich mit mir läuft. Und ob ich da noch was dran ändern kann.

      Ich werde nicht mehr auf diesen Baum klettern. Bei Neptun. Ich schwöre. Ich will nicht schuld sein, dass der alte Hausmann es alle macht. Und meine beiden Alten haben genug mit sich zu schaffen. Und überhaupt. Was interessiert mich diese steil frisierte Christa Mällmann. Hinter der Rappke her ist. Dieser alte Knabe aus der Dreizehnten. Sollen die beiden doch zusammen in Rente gehen und sich einen Sarg teilen. Mit mir nicht.

      Das stinkt ja alles! Und wie das stinkt! Nach Sonnenöl und Bratwürsten! Wegen euch vergieße ich doch keine müde Träne! Wegen euch doch nicht!

      Er segelte weiter auf seinem Kurs nach Westen, und sie legten an dem Tag und in der Nacht wohl über fünfzig Meilen zurück; er gab nur siebenundvierzig an. Sie waren alle sehr guter Stimmung, und die Schiffe wetteiferten, wer als erster Land zu sehen bekäme; sie sahen viele Thunfische, und die Matrosen von der Nina erlegten einen. An dieser Stelle sagte der Admiral, jene Zeichen sind von Sonnenuntergang gekommen, und ich hoffe, dass der allmächtige Gott, in dessen Hände alle Siege gelegt sind, uns dort binnen kurzem Land schenken wird. Er sagt, er habe an diesem Morgen einen weißen Vogel gesehen, der Tropikvogel heißt und der nicht auf dem Meer zu schlafen pflegt.

      Aufnahme! Aufnahme! Wer mich hören will!

      Sechzehnter September. Neunzehn Uhr.

      Eine Woche ist vergangen, seitdem ich nicht mehr auf der Kastanie gesessen habe. Es ist Freitag. Meine beiden Alten und ich befinden sich auf ihrem Grundstück. Ich sitze auf einem Birnbaum. Nicht einmal drei Meter über der Erde. Es ist der höchste Baum, der in unserem Radieschenbeet zu finden ist. Leider kann ich von hier das Meer nicht sehen.

      Der Mann liegt auf den Knien. Er buddelt in der Erde und gibt grunzende Laute von sich. Die Frau wendet jede Menge Würste auf dem Grill. Es zischt und brutzelt und stinkt. Sie ruft: 'Werner, hörst du denn nicht! Ob die Würste denn die richtige Farbe haben?' Der Mann ruft: 'Nicht zu blass, Ines! Aber auch nicht schwarz! Braun, Ines! Hörst du: Knusperbraun!'

      'Mein Gott!', sagt die Frau. Sie ruft: 'Hans! Fall mir ja nur nicht vom Baum! Du hast doch bestimmt riesigen Hunger, mein Junge, was!'

      'Ja', sage ich. Nicht einen Bissen würde ich runterkriegen. Freitags fliegen hier Würste übern Zaun. Elf Katzen sitzen auf dem Schuppendach des Nachbarn. 'Was die Katzen nur wollen?' ruft die Frau. 'Jedes Mal werden es mehr. Diese dummen Tiere.'

      Mir geht es nicht gut. Überhaupt nicht. Mir fehlt was. Ich weiß nicht was. Es hängt mit dem Baum auf dem Schulhof zusammen. Mit dem Blau, in das ich gesehen habe. Mit dem Grün.

      Die Leute in der Schule haben sich wieder beruhigt während dieser Woche. Manchmal sehen sie mich an, als sei ich untergegangen und unerwartet wieder aufgetaucht. Christa Mällmann gibt ein 'Puh!' von sich, wenn wir uns begegnen. Ich wollte, ich könnte sie so dumm finden, wie ich es möchte. Wenn ich nur nicht immer rot anlaufen würde, wie ein verdammter Anfänger. Ich bete zu Neptun, dass ich das Weib verachten kann.

      Manchmal, wenn ich mich von allen vergessen fühle, wünsche ich mir, Panzer wäre mein Freund. Aber Panzer geht mir aus dem Weg.

      Ob er wirklich schwul ist? Solang er mich nicht anmacht, wäre es mir, denke ich, egal. Mehr stört mich, dass er zur Bundeswehr will. Ich halte nichts von der Marschiererei und den vielen Flinten. Ob Panzer nur zum Bund will, um seinen Alten bei Laune zu halten? Dieser klapprige Schreibtischhengst der Nationalen Volksarmee, da ist mein Erzeuger ja noch blankes Gold. Aber vielleicht kommt es Panzer ja nur auf die Panzer an, die Technik und die Kraft, das könnt ich verstehen. Jeden Tag habe ich das Schiffstagebuch vom Admiral bei mir. Ich will es Panzer zum Lesen geben. Aber dann lasse ich es doch in meiner Tasche stecken. Was ist, wenn es ihn überhaupt nicht interessiert?

      Auch dem alten Hausmann würde ich das Schiffstagebuch gern geben. Auch dem Mann und der Frau. Eigentlich vielen Leuten. Allen. Ob sie mit mir singen würden: So öffneten wir die Meere, die nie zuvor Geschlechtern aufgetan ... ?

      Der alte Hausmann muss von der Direktorin Prügel bezogen haben. Wegen mir. Die Wendisch schlägt eine knallharte Dublette. Dabei sieht sie aus, als wäre sie die kleine Schwester von der Mällmann. Das andere Geschlecht ist mir ein Rätsel. So was begreift kein Mann.

      Wenn nur der alte Hausmann nicht wäre. Keiner bekäme mich vom Baum herunter. Keine Ahnung, warum ich ihm nicht wehtun will. Ich kenne ihn ja gar nicht. Er erinnert mich manchmal an meine Oma. Als sie krank im Bett lag. Ich glaube, sie hat nur noch gebetet, dass Neptun sie in Ruhe untergehen lässt. Sie konnte keinen Windstoß mehr vertragen. Kein lautes Wort. Wir haben uns nur noch auf Zehenspitzen in der Wohnung bewegt. Selbst der Zauberkasten war leise gestellt. Der Mann und die Frau waren total fertig in diesem halben Jahr. Aber sie wollten Großmutter nicht in ein Krankenhaus oder in ein Pflegeheim geben. Die Alten sind, wie sie sind. Doch dafür würde der Admiral ihnen eine Belobigung aussprechen.

      Aber mit dem alten Hausmann ist es noch was anderes. Es ist, als würde ich ihn mein Leben lang kennen. Als gehörte er zu mir. Und ich könnte einmal ganz so sein wie er. Wenn ich daran denke, bekomme ich das große Zittern.

      In den letzten Tagen ist es, als hätte der alte Hausmann seinen Beerdigungstermin erst einmal verschoben. Im Unterricht beobachtet er mich. Ich benehme mich, als bemerke ich es nicht. Er sieht mich an, als ob er mich röntgen will. Er erzählt, was er uns erzählen muss. Doch er möchte mich