Er ging zurück ins Gebäude. Er fand links vom Flur abgehend das Treppenhaus. Einen Fahrstuhl gab es nicht. Die Treppenstufen knarrten, es war ein steiler Aufstieg, wie in einem alten Haus nicht anders zu erwarten. Der Flur im ersten Stock war großzügig, die Wände weiß gestrichen. Auch hier verkündete ein Messingschild mit eingelassener schwarzer Schrift die Sozietät Stolle & Partner. Daneben die Eingangstür. Ein Türblatt aus Mahagoni mit Messingbeschlägen. In der Mitte eine große Aussparung, eine getönte Glasscheibe, durch die der Blick auf einen Empfangstresen fiel. Innen war der Fußboden des Vorraums schwarz gefliest. Über den Fliesen und dem Empfangstresen lag eine dünne Staubschicht. Der Empfangstresen war bis auf eine zusammengefaltete Plastiktüte akkurat abgeräumt. Marek zog am Griff der Tür. Es war verschlossen. Das ins Türblatt eingelassene Sicherheitsschloss sah massiv aus und war vor allem unbeschädigt.
Er nahm die Treppe in den zweiten Stock. Auf dem letzten Stück war der Handläufer locker, hielt aber gerade noch. Die Treppenstufen wirkten abgenutzt, das Knarren schien bedrohlicher geworden zu sein. Der Flur im zweiten Stock war etwas kleiner, die Wohnungstür weit weniger repräsentativ. Die Farbe auf dem braungestrichenen Türblatt löste sich an einigen Stellen bereits ab und offenbarte ein trockenes, rissiges Holz. Marek überprüfte das Schloss. Es war zerkratzt, zeigte aber ebenfalls keine Spuren einer gewaltsamen Öffnung. Die Wohnung war fest verschlossen. Der Klingelknopf rechts neben der Tür war ohne Namensschild ausgeführt. Marek ging mit dem linken Ohr näher an das Türblatt heran und drückte die Klingel. Ein Dreitongong erklang. Das Geräusch war überraschend. Es schien in der Wohnung zu verhallen, dann war es wieder still. Marek drückte ein zweites Mal und horchte erneut in die Stille, an der sich auch nach einer halben Minute nichts änderte. Er ging einen Schritt zurück und schaute über sich. In die hohe Decke des Flures war eine Bodenklappe eingelassen. Er streckte sich nach oben, stellte sich auf die Zehenspitzen und versuchte die Arretierung der Klappe zu erreichen, aber es fehlte gut ein halber Meter.
Er machte sich auf den Rückweg nach unten. Er kam an der messingbeschlagenen Eingangstür der Anwaltskanzlei vorbei, die in dem kahlen Treppenhaus wie das Tor zu einer anderen Welt wirkte. Er zögerte kurz, ging dann aber weiter. Ein Knarren der letzten Treppenstufe und Marek stand wieder unten im Flur. Das Licht war inzwischen ausgeschaltet, der Beamte hatte seinen Posten verlassen. Die Seitentür ins Reisebüro war verschlossen. Marek öffnete sie vorsichtig. Ein Sichtschutz war errichtet worden, dahinter erhellte das Blitzlicht von Kameras die Zimmerdecke. Er sah sich um. Auf der rechten Seite, im hinteren Bereich des Reisebüros gab es zwei weitere Türen.
Die eine führte in einen kleinen Sanitärraum mit Waschbecken, Toilette und sogar einer Dusche, bei der allerdings der Duschvorhang fehlte. Marek trug noch seine Schutzkleidung und öffnete daher auch die zweite Tür. Er betrat eine Küche. Es gab eine Kaffeemaschine, daneben eine Mikrowelle, ein Tisch, zwei Stühle, eine Geschirrspülmaschine in Sparversion. Alles war in einer schlicht weißen Küchenzeile integriert. Am hinteren Ende der Küche gab es einen geschlossenen, bodentiefen Schrank. Als Marek nähertrat stellte er allerdings fest, dass es sich nicht um einen Schrank handelte. Er drückte den schmalen Griff herunter und zog die vermeintliche Schranktür auf. Ein leichter Zug kühler Luft kam ihm entgegen, er nahm sofort den Geruch von Heizöl wahr. Das Licht aus der Küche fiel auf eine hölzerne Kellertreppe, die steil in die Tiefe führte.
Er suchte nach einem Lichtschalter. Außen gab es keinen. Er tastete die Innenseite neben der Türzarge ab, fand aber auch hier nichts. Er zog seine kleine Taschenlampe aus dem Overall und schaltete sie ein. Der Lichtstrahl warf einen Spot auf den Betonfußboden am unteren Ende der Kellertreppe. Er überlegte kurz ob der Bereich zunächst von Ulrich Rooses Leuten gesichert werden sollte. Er setzte einen Fuß auf die erste Treppenstufe und beugte sich vor. Der Lichtkegel seiner Taschenlampe huschte über ein grobes Tischbein und über das untere Brett eines an der Wand stehenden Regals. Pappkartons warfen Schatten auf den grauen Betonboden.
Marek folgte dem Strahl seiner Taschenlampe. Die Treppenstufen waren schmal, aber aus massivem Holz. Er tauchte in den Keller ein. Die Luft wurde deutlich kühler, je tiefer er kam. In seinem Augenwinkel nahm er Leuchtdioden wahr. Der Strahl der Taschenlampe traf den Block einer Ölheizung, die Öltanks waren nicht zu sehen. Marek leuchtete einmal im Rund die Wände ab. Es gab keine Nische, keinen angrenzenden Raum, in dem die Tanks untergebracht waren. In seinem eigenen Haus hatte er vor ein paar Monaten die Ölheizung durch eine Gastherme ersetzen lassen. Die drei kleinen Öltanks waren zerlegt worden. Der gewonnene Platz im Keller stank noch immer nach Öl und war vorerst nicht zu gebrauchen. Die Heizung in dem Gebäude, in dem er sich jetzt befand, wurde offenbar von einem Außentank versorgt.
Er kehrte mit dem Strahl der Taschenlampe auf das hölzerne Regal zurück, dass er schon vom oberen Treppenabsatz aus gesehen hatte. Die unteren Böden waren durchgehend leer. Auf den Böden in Sichthöhe standen Kartons mit Reiseprospekten und Werbebannern. Einen der Kartons schaute er sich näher an. Er fand Dekorationsmaterial für das Schaufenster des Reisebüros, einen aufblasbaren Wasserball in dunkelblau mit weißer Werbeaufschrift, zwei Sonnenhüte und mehrere Einweckgläser mit feinkörnigem Sand. Er setzte seine Erkundung fort. Gleich neben dem Regal stand eine Werkbank. Eine massive Schraubzwinge, ein Becher mit Schraubendrehern, ein Farbtopf mit mattweißer Heizkörperfarbe. Er zog die beiden Schubladen der Werkbank auf, fand weiteres Werkzeug. Mehrere Sägen, einen Hammer, einen Satz Metallfeilen. In einem ausrangierten Besteckkasten lagen Schrauben und Nägel in verschiedenen Größen.
Die Abmaße des Kellerraums ließen darauf schließen, dass das Gebäude nur teilunterkellert war. Marek drehte sich wieder zur Treppe um. Er leuchtete einmal durch die offenen Stufen. Unter der Treppe waren weitere Kartons gelagert. Die Verpackung eines Fernsehers und eines Kugelgrills, wie die farbigen Abbildungen auf den Pappen erkennen ließen. Weiter hinten standen noch gewöhnliche Umzugskartons. Marek ging seitlich hinter die Treppe. Der Strahl der Taschenlampe reflektierte vom Boden. Ein roter Fleck auf dem Beton fiel ihm auf. Er leuchtete gezielt darauf. Es waren zwei, drei, fünf Flecken und ein weiterer, den er mit seinem rechten Schuh bereits verschmiert hatte. Er dachte nicht gleich an Blut, als er mit der Fingerspitze auf einen der intakten Flecken tippte und die haftengebliebene Substanz zwischen Zeigefinger und Daumen verrieb. Er roch an seinen Fingern und sofort spürte er den Geschmack von Eisen im Mund, der sicherlich durch die reine Einbildung noch verstärkt wurde.
Er benutzte wieder die Taschenlampe und sah erst jetzt, dass die Umzugskartons unter der Treppe wie eine Wand aus Pappe angeordnet waren. Er zog den untersten Karton etwas vor, der darüber geriet ins Wanken. Er fing ihn ab, zog dann beide Kartons unter der Treppe hervor. Die Taschenlampe erleuchtete den Hohlraum. Marek blickte auf einen gekrümmten Rücken, ein grünes Hemd oder eine Bluse, blaue Jeans. Die Beine waren angewinkelt. Die Person dort in der Nische hatte halblange, dunkelbraune Haare, die die Schulter bedeckten. Nach dem ersten Moment der Überraschung drückte er sich am Treppenholm zurück und richtete sich wieder auf. Er stellte sich vor die Treppe, blickte nach oben und rief. Er hörte selbst nicht, was er rief, er hoffte nur, dass man ihm die Panik in seiner Stimme nicht anmerkte. Irgendwann erschien die Gestalt von Ulrich Roose oben an der Treppe und verdunkelte den Lichtausschnitt.
*
Auf der Werkbank im Keller stand jetzt ein Halogenscheinwerfer, der auf einem Stativfuß befestigt war, und das ausleuchtete, was sich unter der hölzernen Kellertreppe abspielte. Ulrich Rooses Männer hatten die Kartons vorsichtig herausgezogen und in einer freien Ecke des Kellers gestapelt. Ulrich Roose selbst beugte sich unter die Treppe, um sich ein erstes Bild von der Spurenlage zu machen. Vorsichtig begann er den dort liegenden Körper abzutasten. Er zuckte plötzlich zurück und hätte sich beinahe den Kopf am Treppenholm gestoßen.
»Sie atmet«, rief er in Richtung von Dr. Kerstin Sander, die neben Marek stand. »Der Körper ist auch noch ganz warm.« Dann sah Ulrich Roose Marek an. »Haben Sie das denn nicht überprüft.«
»Ich ...« Marek zögerte.
Ulrich Roose gab ihm keine Gelegenheit, sich zu rechtfertigen. »Sie müssen doch prüfen, ob Sie eine Leiche oder eine verletzte Person vor sich haben.«
Marek blieb stumm. Im Falle eines Leichenfundes musste die Gerichtsmedizin warten,