Murder2share – Mord zum Teilen. Kris Wordsmith. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Kris Wordsmith
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783752932287
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Aber woher wusste das der Absender? Das wusste niemand. Das hatte sie niemanden erzählt. War der Absender etwa der Mann, mit dem sie Isa betrogen hatte? Sie überlegte. Wie war sein Name? Ihr fiel er nicht mehr ein. Außerdem war es ein Spanier, der kein Deutsch sprach. Wusste der Absender das wirklich? Oder unterstellte er es einfach? Sie beschloss, nicht mehr zu antworten und die Nachrichten zu ignorieren.

      Es war schon spät. Bald würde Isa nach Hause kommen. Sie musste noch schnell das Video abschließen und hochladen. Sie öffnete die Kamera ihres Smartphones und betätigte den roten Aufnahmeknopf.

      „Hey meine Lieben, ich führe euch noch kurz durch meine Wohnung. Tom und ich haben neue Teppiche verlegt.“

      Sie hielt das Smartphone nach vorne und ging durch die Wohnung.

      „Mit dem Codewort ‚Isa30‘ erhält ihr Dreißig Prozent Rabatt bei Teppichkönig, wo wir sie gekauft haben. Service und Preisleistungsverhältnis sind echt super.“

      Während sie am Schlafzimmer vorbeiging, bekam sie eine Idee und betrat es:

      „Ach ja, das ist mein neues Bett. Die Matratze hat unzählige Sensoren, die meine Schlafaktivität messen. Das bespreche ich ausführlicher in einem zukünftigen Video.“

      Sie filmte jedes Detail des Bettes. Das reichte für heute. Jetzt ging es an die Videobearbeitung.

      Sie setzte sich wieder an den Computer. Sie war nicht zufrieden mit ihrem Aussehen. Sie hätte ein helleres Makeup und stärkeren Eyeliner benutzen müssen. Ihr Gesicht wirkte zu breit im Video, dachte sie. Außerdem hatte sie einmal genuschelt. Doch sie hatte keine Lust mehr, ein neues Video aufzunehmen. Sie setzte einfach einen Untertitel an die Stelle: „Sorry fürs Nuscheln.“

      Das machte das Video zudem authentischer und natürlicher. Hatte sie schon zu viele Falten? Sie war doch erst Dreißig. Ihre Augenbrauen mussten gezupft werden. Außerdem waren ihre Nägel nicht gefeilt. Sie wirkte müde auf dem Video. Außerdem war ihr Lachen künstlich. Würden das ihre Follower erkennen? Sie setzte einen Weichzeichner über das Bild, damit ihre Haut glatter aussah. Er durfte nicht zu stark sein, damit man ihn nicht bemerkte. Natürlichkeit war das Wichtigste, auch wenn sie künstlich erzeugt wurde. Außerdem hellte sie ihre Haarfarbe etwas auf. Helles Blond kam an. Sie hatte schon zu lange keinen Haarbleicher mehr benutzt. Der digitale Aufheller war ebenso gut. Sie selbst staunte über ihr helles Haar auf dem Video. Dann vergrößerte sie noch ihre Augen. Der Unterschied war nur unmerklich, aber er war da. Große Augen wirkten niedlicher. Digital war heute fast alles möglich. Die Matratze gefiel ihr nicht. Sie veränderte die Farbe.

      Endlich war sie fertig. Der Klick auf den Upload-Button war eine Erlösung für sie. Freudig sah sie dabei zu, wie der Prozentbalken immer größer wurde. Sie beobachtete, wie die Daten ins Netz geladen wurden, wie sie in die Cloud schossen, sich verteilten in der Welt, in den allumspannenden digitalen Äther übergingen, ewig und unendlich wurden. Die Daten wurden zu Lichtsignalen, strömten über die Meere um die Welt, wurden wieder zu elektrischen Signalen, zu hochfrequenten Wellen, schwirrten unsichtbar durch die Luft, bis sie auf die Empfänger stießen. Dort verwandelten sie sich wieder in Licht. Welch ein Wunder war das. Und doch war es gewöhnlich geworden. Bald würden ihre Daten überall sein, sie würden hunderttausendfach verbreitet sein, auf unzähligen Screens würde ihr Antlitz erscheinen, durch zahllose Lautsprecher würde ihre Stimme zu hören sein. Sie war ein Star. Sie war stolz auf sich. Sie zählte. Sie umarmte die Welt.

      Mit Glück betrachtete sie die Statistik. Die Zahlen schossen in die Höhe. Schon nach wenigen Sekunden hatte sie Hunderte von Aufrufen. Nach einigen Minuten waren es Tausende. Sie war im Freudentaumel. Sie vergaß alles um sich herum. Das Video nahm Fahrt auf, es erschien auf unzähligen Startseiten und Empfehlungslisten. Das Video fuhr steil bergauf, so steil wie noch nie. Der Algorithmus liebte sie. Sie liebte ihn auch. Sie wusste genau, auf was er stand. Er war ihr heimlicher Freund. Sie stellte sich ihn als einen Mann vor, den sie befriedigen musste.

      Am meisten Angst hatte sie vor Veränderungen des Algorithmus. Doch jetzt war sie wie in Trance. Zehntausend Aufrufe waren es nun. Sie rechnete, dass es bis morgen eine Million sein könnten. Wie sehr sehnte sie sich wieder nach einem viralen Video. Ihr bestes Video hatte über fünf Millionen Aufrufe. Doch das lag drei Monate zurück. Damit hatte sie nicht gerechnet. Es war ein gewöhnliches Video, dachte sie. In dem Video unterhielt sie sich mit Tom über Vorlieben im Bett. Es war ein spontanes Video. Trotzdem war es erfolgreich.

      Wie gerne würde sie diesen Erfolg wiederholen. Doch man konnte nichts vorhersehen, nichts planen. Der Algorithmus ging manchmal eigenartige, unergründliche Wege.

      Sie las die unzähligen Kommentare, die sich mittlerweile unter ihrem Video angehäuft hatten. Die Liste war unendlich. Sie wurde überflutet von Smileys und Beglückwünschungen. Sie wischte mit ihrem Zeigefinger über das Display. Sie streichelte es.

      Was repräsentierte diese eigenartige, künstliche Pixelwelt der Icons und Emojis? Was bedeuteten diese schrillen Farben, diese Perfektion, Glätte und Gleichförmigkeit? Diese Welt war zu einem eigenständigen Raum geworden. Es war ein Zauberreich des Zuspruchs, ein Positivraum, der nur den Like kannte.

      Sie vergaß die Zeit. Sie musste doch das Abendessen für Isa vorbereiten. Schnell ging sie in die Küche. Der smarte Kühlschrank meldete, dass keine Milch mehr da war. In Gedanken war sie immer noch in ihrem Video.

      „Alexia, spiel chillige Musik.“ sprach sie.

      Doch es spielte keine Musik. Tina ging zu dem intelligenten Lautsprecher und sagte erneut: „Spiel chillige Musik!“

      Doch es passierte nichts. Plötzlich sprach Alexia, ihr Sprachassistent, zu ihr: „Hey, was ist jetzt? Soll ich Isa erzählen, dass du sie betrogen hast?“

      Sie wurde wie aus einem Traum gerissen. Wie war das möglich? Wer sprach da zu ihr? Sie hatte doch nur gute Erfahrungen mit Alexia gemacht. Wer sprach da zu ihr? Es war der gleiche Wortlaut wie in der Nachricht auf ihrem Smartphone. Doch wie konnte das Alexia sagen? Das war unmöglich.

      „Was hast du gesagt?“ fragte sie.

      Doch es kam keine Antwort mehr. Jetzt wurde die Musik gespielt, die sie sich gewünscht hatte. Das Gerät wurde ihr unheimlich.

      „Alexia, was hast du gerade gesagt? Was sollst du Isa erzählen?“

      „Ich verstehe dich nicht.“ antwortete Alexia.

      Hatte sie sich etwa verhört? Nein, das hatte sie nicht.

      „Alexia, was sollst du Isa erzählen?“

      „Ich weiß nicht, was du meinst. Soll ich eine Nachricht für Isa aufnehmen?“

      „Nein.“

      Sie wurde wütend. Wer hatte ihr diese Nachrichten geschickt? Wer hatte sogar Zugriff auf ihre smarten Geräte in der Wohnung? Erlaubte sich Tom einen Scherz? Aber Tom wusste doch nichts von ihrer Affäre vor einem Jahr.

      Sie musste das Essen vorbereiten. Sie blickte auf ihr Smartphone und öffnete die Gesundheits-App. Heute hatte sie zu wenig Kalorien verbraucht. Sie hatte zu wenig Bewegung. Ihr Puls war zu hoch. Ihre Cholesterinwerte waren zu hoch. Deshalb musste sie ein kalorienarmes Essen zubereiten.

      „Alexia, welche Gerichte kann ich zubereiten, die wenig Kalorien haben, mit Lebensmitteln aus dem Kühlschrank?“

      „Salat, Kartoffelgratin, gekochte Karotten.“

      Das gefiel ihr nicht. Ein Gratin dauerte viel zu lange. War sonst nichts mehr im Kühlschrank?

      „Alexia, was ist noch im Kühlschrank?“

      „Joghurt, Wasser.“

      Sonst nichts mehr? Ihr machte das nichts aus, aber Isa hatte immer Lust auf Fleisch. Sie bereitete den Salat zu und warf Kartoffeln und Karotten in einen Kochtopf.

      „Hi.“ vernahm sie die Stimme von Isa. Sie freute sich und lief in den Flur. Da war Isa. Sie umarmten sich. Tina fuhr mit ihrer Hand durch Isas kurzes, schwarzes Haar. Das gefiel ihr. Isa sah wie ein Junge aus. Ihr Körper war muskulös. Das hatte sie ihrer Arbeit im Fitnessstudio zu verdanken. Sie küssten sich.